Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
und die Menschen reklamieren fast so etwas wie ein Geburtsrecht auf Überwältigung durch etwas, wovon sie hoffen, daß es beim Teufel noch stärker ist als sie selber.
Geyer: Ich habe manchmal den Verdacht, daß diese Tendenz zur Weltabgewandtheit in Ihrem Sinne auch dort zu finden ist, wo man es am allerwenigsten vermutet, nämlich in der modernen theoretischen Physik. Diese neuen kosmologischen Erklärungsversuche haben doch über weite Strecken durchaus mystische und mythische Qualität …
Sloterdijk: Ich würde den Ausdruck »mythische« hier vorziehen …
Geyer: … ich glaube doch auch mystisch!
Sloterdijk: Als Grenzwert, da haben Sie recht, ist auch für Naturwissenschaftler so eine Art mystische Dimension erschlossen. Warum? Weil sie in einen Bereich hineinfragen, wo die Möglichkeit, positive Antworten zu geben, überhaupt aufhört, das ist die Operation, mit der sich die Mystiker der monotheistischen Religionen an den Abgrund herangefragt haben. Man kennt das aus der positiven Theologie, die auf der via eminentiae , also auf dem Weg der Überhöhung, versucht hat, sich an Gott heranzudenken: Denke dir das Größte, was du dir vorstellen kannst, und denke dann immer noch etwas Größeres. Denke Gott als dasjenige, was deine Erkärungskraft überschreitet. Genau dasselbe tun – analogisch – die Physiker, die den mächtigsten Erklärungsgrund für die Welt suchen und dann sagen: auch das reicht nicht. Damit hast du im Grunde genommen vor lauter Begründungswahn eine Entgründung erreicht, und das ist die Prozedur des mystischen Denkens. Sofern es also nicht eine Emotionsmystik ist, sondern eine logische Mystik, kommt man auf dem Wege eines zu Ende gegangenen Begründungspathos in den Abgrund. Das kann man bei Meister Eckhart studieren, das kann man auch bei Plotin schon beobachten, das kann man bei Dionysius Areopagita sehen, eigentlich bei all denen, für die Mystik nicht eine Rausch- und Gefühlssache war, sondern eine Angelegenheit des Zuendegehens in logischen Angelegenheiten. Bei ihnen treten Phänomene auf, die vergleichbar sind mit den Grenzzuständen, in denen das naturwissenschaftliche Denken ausklingt.
Sie haben also vollkommen recht. Das ist ein neumystischer Trend auch in der strengsten Form der Theorie. Man muß allerdings dazu sagen, daß diese Leute, die diese Theorien heute betreiben, von ihren Charakteren her nicht die allerstrengsten sind, sondern eher grenzgängerische Typen. Ein exzellenter Physiker ist fast immer ein Mensch, der es in einem Büro nicht aushält. Das hat er mit anderen Exzentrikern gemeinsam, nicht zuletzt mit einer bestimmten Art von Philosophen. Übrigens – die bekannten modernen Philosophen halten es in Büros hervorragend aus, das ist es ja, was man ihnen vorwirft. Bei ihren Berufungsverhandlungen sprechen sie fast nur über ihr Büro und fast gar nicht über ihren Auftrag.
Geyer: Also Sie teilen ja da wirklich ganz schön aus in Hinblick auf die etablierte Philosophie. Sie schreiben z. B.: »Wer lernen möchte, elaboriert am Menschen vorbeizureden, kann nichts Besseres tun, als ein Mitspieler des zeitgenössischen Philosophiebetriebes zu werden.« Was läuft da Ihrer Meinung nach verkehrt? Was müßte die Philosophie tun, um den Menschen wieder zu treffen?
Sloterdijk: Ach schaun Sie, nehmen Sie doch das Beispiel der heutigen Medizinerrekrutierung. Wir haben ein Notensystem, das dazu führt, daß die Einserschüler und die Kinder aus Elternhäusern mit einem hohen Anspruch an den Lebensstandard bevorzugt die Heilberufe studieren, weil sie dort sich besondere Gratifikationen erwarten. Da wird eine systematische Fehlselektion der Ungeeigneten betrieben. Ich glaube, jedes Fach heute im ganzen Spektrum der Wissenschaften hat so seine Irrläufer. Es wäre ein Wunder, wenn die Philosophie davon eine Ausnahme machen würde. Natürlich ist eine akademisierte Philosophie eine riesige Irrläufer-Angelegenheit, weil die Akademie, so wie sie heute besteht, ja keinen akademischen Geist mehr hat, sondern einen Geist der Qualifikationswettbewerbe. Das sind große Irrtumsvermeidungsspiele. Daraus entstehen zwangsneurotische Karrieren, und wer sich dort durchsetzt, ist eigentlich nur ausnahmsweise noch ein Philosoph. DiePhilosophie stirbt an ihren akademischen Vertretern so wie die Religion an ihren Theologen, ich will nicht sagen gestorben, aber zumindest verkümmert ist. Man kann das in dieser etwas grobschlächtigen Allgemeinheit durchaus behaupten, wenn man bereit ist,
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