Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
die Ausnahmen zu akzeptieren. Und es gab in diesem Jahrhundert weiß Gott eine ganze Reihe – gerade in der deutschen Philosophie – großartige Ausnahmen, die nichtsdestoweniger die Regel bestätigen. Heidegger war auch als Hochschullehrer eine Erscheinung. Nach dem Krieg hat es Figuren gegeben, die mit ihrer Lebendigkeit das Fach reanimiert haben. Das geschieht immer wieder, Gott sei Dank. So wäre jede Form von verallgemeinerter Philosophieschelte unredlich, die nicht bereit wäre, mit der Ausnahme zu beginnen. Aber Sie sind schuld, Sie waren es, Sie haben mich auf das Thema gebracht! Ich selber mache solche Bemerkungen nur in Zwischensätzen und nebenbei. Ich bin überhaupt kein polemischer Autor. Meine Polemik ist eine indirekte.
Geyer: Na gut, dann wollen wir dieses leidige Thema wieder verlassen. Mir scheint ja, es sind im wesentlichen zwei Arten von Synthesen, die Sie anstreben – in Ihrem letzten Buch und ich glaube auch in Ihrem Denken überhaupt. Auf der ersten Stufe versuchen Sie, weit voneinander entfernte Fakultäten wie Philosophie, Religion, Mystik und Psychoanalyse wieder zusammenzubringen. Auf der zweiten Stufe überschreiten Sie auch kulturelle Grenzen und versuchen z. B. die östliche Mystik und Philosophie in Ihr Denken zu integrieren. Geht es Ihnen letztlich darum, zu zeigen, daß diese östliche Art der Welt- und Menschenbetrachtung, die ja meistens eine eher mystische ist, nicht nur mit der westlichen kompatibel, sondern womöglich sogar komplementär dazu ist?
Sloterdijk: Ich glaube etwas anderes, nämlich, daß die Menschen auf der Erde, die sich jetzt als Angehörige derselben Gattung entdecken, allesamt eine gemeinsame Verlegenheit teilen. Daß sie den »Nachteil, geboren zu sein«, an jeder Stelle des Planeten in verschiedenen Arten und Weisen durchbuchstabieren. Das Gewicht der Welt zu tragen, ist eine Kunst, die auf sehr verschiedene Art und Weise ausgeübt werden kann. Ich glaube, es ist richtig, zu sagen: es ist dieselbe Grundkunst. Es sind Antworten auf den Lastcharakter des Lebens …
Geyer: … aber Sie versuchen doch, diese Antworten in dieselbe Sprache zu übersetzen, sie zu synchronisieren …
Sloterdijk: … nicht in dieselbe Sprache. Ich sage nur: Es gibt eine Ökumene von Problemen, nicht eine Ökumene der Antworten. Die ganz großen Differenzen zwischen den Menschen sind nicht so sehr national und kulturell, sondern sie sind sehr, sehr tief idiosynkratisch. Man muß mehr ein Romancier sein als ein Kulturmorphologe, um diese Differenzen herauszufinden. Ein Idiot hat andere Strategien, das Leben zu meistern, als der klügste Mensch in derselben Kultur. Die größte Schere, die zwischen Menschen aufklafft, ist nach meiner Überzeugung auf der Ebene der Individualstrategien zu suchen.
Aber eines ist wahr, es gibt in allen menschlichen Kulturen diejenigen, die leicht leben, und diejenigen, die schwer leben. Und die, die leicht leben, und die, die schwer leben, müssen in jeder Kultur einen kleinsten gemeinsamen Nenner ausbilden. Der am leichtesten lebt in einer Gruppe und der am schwersten lebt in einer Gruppe, die müssen sich in einem gemeinsamen symbolischen Kontinuum irgendwo treffen. Wenn das geschieht, dann entsteht überhaupt erst etwas, was wir heute als Kultur bezeichnen: Es entsteht eine in sich zentrierte potentiell von Außenwelt unabhängige Totalität, ein Pandämonium der Lebenskünste und der Lebensformen. Die Inder entwickelten eine so unglaublich reiche Kultur, daß sie fast alles, was Menschen sein können, in ihren eigenen Formen durchbuchstabiert haben. Das würde wahr sein, auch wenn sie nicht im Osten von den Chinesen flankiert würden, für die genau dieselbe Aussage gilt, und im Westen von den Europäern, für die dieselbe Aussage in allerhöchstem Maße ebenso zutrifft. Dieser pandämonische Charakter der Kulturen hängt eben davon ab, daß Kulturen genau diese Kontinua sind: daß also das schwerste Leben und das leichteste Leben das ihre abgeben in die Symbolsysteme ihrer jeweiligen Kulturen hinein, und daß man also für das leichteste Leben und das schwerste Leben, für die loseste Frivolität und die tiefsten Passionen, eine gemeinsame symbolische Hülle findet. In der können Menschen wohnen, und das sind diese berühmten »Häuser des Seins«, von denen Heidegger leider nicht im Plural, sondern im Singular gesprochen hat; Häuser des Seins, die die Behältnisse sind, in denen die Menschen sich einen Reim machen auf die Ungeheuerlichkeit und
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