Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
sagenumwitterte Gebilde, in dem von Hermes Trismegistos die Rede ist – man muß die Texte einfach nur aufblättern, um zu sehen, daß das abgesunkenes, trivialplatonisches Zeug ist, das überhaupt keinen Vergleich erträgt mit den großartigen Gebilden der christlichen Gnosis oder der Theologie des Origenes, von Plotin ganz zu schweigen. Wenn man die Originale, die Hochformen kennt, dann wird einem die Esoterik, wie sie in Buchläden vertrieben wird, verleidet, weil deren Autoren allesamt Leute sind, die nurabgesunkene Formen des platonischen Monotheismus, manchmal auch in Mischungen mit indisch-polytheistischer Religiosität vortragen.
Geyer: Ich würde in der Beurteilung der »Esoterik« sogar noch weiter gehen. Es ist ja so, daß sich da die wirklich aberwitzigsten Kombinationen aus Astrologie, Tarot-Karten, germanischer Runenkunde finden, usw., und dann ist meistens auch ein bißchen popularisierte Psychologie dabei. Was mich aber immer wundert, ist: Warum können sich viele Leute so ohne weiteres in die bizarrsten Rituale moderner Esoterikangebote fallen lassen, während die gleichen Leute bei den Ritualen der christlichen Kirche plötzlich den Verstand einschalten und das dann furchtbar lächerlich finden? Wie geht das zusammen?
Sloterdijk: Weil das Christentum keine Religion des Sichfallen-lassen-Könnens ist. Das ist das ganze Problem! Die einzigen Christen, die sich fallen lassen können, sind die begeisterten Theologen selber, die ganz kleine Anzahl von inspirierten Priestern und Pfarrern, die selber auf den Kanzeln ähnliche mediale Ekstasen erfahren wie die Esoteriker. Aber das ist eine ganz, ganz kleine Minderheit. Das Christentum ist eine Religion der Trockenheit. Es gründet – das habe ich in dem Buch an einer Stelle beschrieben – in einem Sakrament des Entzugs. Denn die Hostien des Abendmahls sind nun tatsächlich nicht-psychodelische Substanzen und haben auch nicht – oder nicht mehr, wer weiß das – die Kraft, so etwas wie verzückte Partizipationen hervorzurufen. Das Sakrament des Entzuges will von vornherein aus dem Christen einen nüchternen Menschen machen, einen Menschen, der das Kreuz der Wirklichkeit auf sich nimmt und der sich das Ekstaseproblem für später vornimmt, als postmortale Angelegenheit. Das ist der große Unterschied zwischen den Esoterikern und den Mehrheitschristen.
Es gibt übrigens in Amerika eine ganze Menge protestantische Untersekten des Christentums, auf die die Beschreibung, die Sie eben gegeben haben, nicht zutreffen würde. Die sind noch esoterischer als unsere Esoteriker, vor allem in einer Hinsicht: daß sie den Menschen noch viel mehr vermitteln, noch medialer machen, ihn noch mehr als Besessenen des Heiligen Geistes ansprechen. Und darauf läuft letzten Endes die ganze Esoterik hinaus. Die Menschen wollen wieder besessen sein, und sie machen fast so etwas wie ein Naturrecht auf Besessenheit geltend, sie lassen sich die entgeisternde Wirkung von aufklärerischer, wissenschaftlicher Erziehung auf die Dauer nicht gefallen. Deswegen diese Massenabwanderung in die Esoterikabteilungen. Die Menschen greifen nach der erstbesten Besesssenheit. Sie sind sehr unwählerisch in dieser Angelegenheit.
Geyer: Das ist ja eine Fast-Food-Besessenheit. Das kann doch nicht sein, daß das auf längere Sicht wirklich eine Alternative ist.
Sloterdijk: Es ist eine Fast-Food-Besessenheit, ja! Es geht aber zunächst nicht um die Qualität, sondern nur um die Grunderfahrung des Ergriffenwerdens durch was auch immer. Der unergriffene Mensch hält sich auf die Dauer nicht aus, und Selbstbegeisterung, wie sie in der Philosophie als Grenzmöglichkeit sich abzeichnet, ist nur den allerwenigsten möglich. Also müssen sie Billigbegeisterungen von der Stange kaufen. Diese Stangen sind eben die inzwischen gewaltig angeschwollenen Regale in jeder beliebigen Buchhandlung bis in die kleinsten Städte der Bundesrepublik. Ich weiß nicht, ob Sie mal in den USA gereist sind und Gelegenheit hatten, dort die Buchläden zu studieren. Die Lage ist dort noch viel extremer. Es gibt Großbuchhandlungen, in denen überhaupt nichts anderes als dieser Typus von Literatur vertrieben wird, und man kann den Eindruck haben, daß das diejenigen sind, die am meisten prosperieren. Die Folgerung, die ich daraus ziehe, lautet: Die Menschen lassen sich ihre Ernüchterung durch die Realitätsdefinition der Mehrheitskultur nicht länger gefallen. Es gibt sehr, sehr viele »Piratenwege« in die neue Besessenheit
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