Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
so schwerfällt zu verstehen, ist, daß sie ihn verloren haben, und zwar mit dem ersten Schlag. Es handelt sich um einen Krieg, der nur aus einer einzigen Schlacht bestand und der zu einer reinen, nicht mehr kompensierbaren Niederlage geführt hat. Die beiden Gebäude sind eingestürzt, wir haben es alle gesehen, und damit ist die Sache, so seltsam es klingt, auch schon vorbei. Und alles, was man nun an Fortsetzungskapiteln dazu schreiben möchte, spielt auf einer anderen Ebene. Der Anblick einstürzender Hochhäuser ist in einer Kultur, die von ihren Quellen her auf so einen Vorgang ja vorbereitet ist, doppelt schmerzhaft. Wir haben einerseits den Mythos von David und Goliath, der hier in der unangenehmsten Form unterwandert worden ist. Wir sind es gewohnt, den kleinen Guten gegen den großen Bösen zu stellen. Und sind plötzlich gezwungen, den großen Guten gegen den kleinen Bösen antreten zu lassen. Da sträuben sich doch sämtliche moralischen Federn, die unser schon sehr gerupftes Gewissen noch besitzt. Nur ganz Gerupfte können sich in diese neue Situation ohne Vorbehalt hineinfinden. Der große Gute gegen den kleinen Bösen, das wäre die neue Schlachtaufstellung des 21. Jahrhunderts? Das ist doch ein Witz.
Frank: Und der zweite Mythos?
Sloterdijk: Der Turmbau zu Babel, mit dem zum ersten Mal das theologische Ressentiment gegen den Hochbau artikuliert worden ist – und zwar gegen den Hochbau der anderen. Dieser Mythos artikuliert das Unbehagen der versklavten Juden an der babylonischen Arroganz! Es ist ein lustvolles Zerstörungsphantasma über den Text: Gott legt heidnische Türme inSchutt und Asche. Dieses Motiv ist für unsere Kultur konstitutiv. Das Trauma vom 11. September ist deswegen so groß, weil das Illusionsleitsystem der Weltmacht damit getroffen ist. Die US -Amerikaner wissen im Moment nicht mehr, wie sie ihren neobabylonischen Traum der totalen Innenweltsicherung durch totale Außenweltkontrolle weiterträumen sollen, ohne sich selber zu zerstören. Es ist tatsächlich ein böser Virus in die amerikanische Herrlichkeit infiltriert worden. Es liegt in unserem eigenen wohlverstandenen Interesse, daß dieser Virus keine allzugroßen Verstimmungen der amerikanischen Mentalität hervorbringt. In einer Weltpolitik der Ressentiments sähe ich im Moment die größte Gefahr. Gott sei Dank ist die amerikanische Demokratie einigermaßen belastbar, und vor allem die amerikanische Zivilgesellschaft verfügt über mirakulöse moralische Ressourcen. Aber die Infektion ist heftig.
Frank: Weil sie nicht mehr kompensiert werden kann?
Sloterdijk: Die Botschaft der Türme hat sich bereits ins historische Gedächtnis eingeprägt, weil wir eine Kultur sind, in der die Turmsymbolik theologisch und ethnonarzißtisch sehr tief besetzt ist. Da bedeutet ein einstürzender Turm ein Gottesgericht, hinter das man nicht mehr zurückkann.
Frank: Begrüßen Sie als Autor einer sphärologischen Theorie die Einführung der Einheitswährung in einer Wohlstandssphäre Europa?
Sloterdijk: Ich halte den Euro eher für das Geständnis dessen, daß die Europäer im Moment ihre gemeinsame Idee nicht haben. Die Frage ist nur: Warum haben sie sie eigentlich nicht? Sind sie mit ihrem Europäersein so eins und zufrieden, daß sie nicht mehr fordern? Oder sind sie in einem Zustand maligner Schwäche, aus der nichts Gutes mehr werden kann? Eine Art von Schwäche, die ausdrückt, daß die Problemlösungskraft dieser Zivilisation erloschen ist? Ich glaube eher, daß es sich um den ersten der beiden Fälle handelt. Ich meine, daß in Europa etwas ganz Singuläres im Entstehen ist, nämlich eine Großstruktur, die ihrer internen Verfassung nach keine imperiale Programmatik mehr hat. Das ist etwas, was wir bisher in der Geschichte noch nie gesehen haben: daß das Große imperial programmlos auftritt.
Frank: Im Gegensatz zur amerikanischen Größe?
Sloterdijk: Ja, die amerikanische Größe folgt noch einem imperialen Code. Die europäische ist postimperial und insofern die viel interessantere Strukur, sie gibt mehr zu denken und ist nachahmungswürdiger, sie löst weniger Eifersuchtskonflikte aus. Die Weltgeschichte hat ja im Augenblick ein heißes Zentrum, das ist dieser innermonotheistische Mehrkampf der Megalomanien. Dies ist der Grund, warum wir heute eine amerikanistisch-islamistische Weltkriegsfront sehen, auf der semantischen Ebene jedenfalls. Hier wird ein Eifersuchtskrieg geführt, in dem es darum geht, die Position des
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