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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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heißt, die Erziehung oder Verbesserung des Menschengeschlechts zu projektieren.
    Sloterdijk: Der Ansatz beim Zeitbewußtsein hilft uns, gleich an einem brisanten Punkt ins Gespräch zu kommen. Ich habe durch die Arbeit an dem dritten Band meines Sphärenprojekts einen neuen, stärker räumlich akzentuierten Ansatz in der philosophischen Anthropologie entwickelt. Es war für mich selbst überraschend zu sehen, wie sehr diese Theorie des gegenwärtigen Zeitalters – denn das soll Sphären III wesentlich sein – sich in die Anthropologie einlassen mußte. Ich würde inzwischen so weit gehen zu sagen, daß die bisherigen Formen von philosophischer Anthropologie übereilt waren. Aus der Blitzhochzeit zwischen den Begriffen Philosophie und Anthropologie ist – zumindest nach meinem Dafürhalten – keine haltbare Allianz hervorgegangen, weder in der Heideggerschen Form noch in der Plessnerschen und Gehlenschen. Ich bin mir natürlich bewußt, daß Heidegger entsetzt wäre, wenn man sein Œuvre in solche Zusammenhänge rückt – er hielt sich selbst für einen resoluten Anti-Anthropologen –, gleichwohl kann er den Verwandtschaftszusammenhang mit dem, was Plessner auf der einen Seite und Gehlen auf der anderen Seite taten, nicht wirklich abstreifen. Sphären III ist ein Buch geworden, das die philosophische Anthropologie als Topologie neu zu entwickeln vorhat. Mein Ehrgeiz bestand vor allem darin, den Menschen vom menschenbildenden Ort her zu erklären – von jenem surrealen Ort her, der die Anthropogenese bedingt. Ich denke hierbei an die homo-sapiens-typische Frühgeburtlichkeit und die auf Dauer gestellte Brutkastensituation, in der die Jungen heranwachsen; ich denke weiter an das außerordentliche bonding zwischen den Müttern und den Jungen, das aus dem alten Primatenerbe in die menschliche Situation einfließt. Das alles berechtigt uns, im Blick auf den Sapiens von einer neurologischen Ausnahmesituation zu sprechen. Und dann kommt der phonotopische Ausnahmezustand hinzu, dieses Leben im »Haus der Sprache« – um an Heideggers große Formel zu erinnern. Man macht sich viel zu selten klar, daß das Haus der Sprache zunächst und zumeist ein Haus des Nonsens ist. Es ist die Herberge der Redundanz und der Selbsterregung. Wer es bewohnt, lebt eo ipso im Haus der Selbstbezüglichkeit, vielleicht sogar im Haus der Protomusik Also im Haus einer Klanglichkeit oder einer Geräuschlichkeit, die näher bei der Musik als bei der Mitteilung liegt. Hier heißt Dasein soviel wie Sich-Hören.
    Macho: Das »Haus der Sprache« ist ein geheimnisvoller Ort. Weder Linguisten noch Paläoanthropologen wissen, wann und wie Sprache überhaupt entstanden ist, und unter welchen Anforderungen sie womöglich entstehen mußte. Die Rede vom Haus scheint nahezulegen, daß die Menschen erst im Zuge der »neolithischen Revolution«, der Errichtung von Häusern und Städten, grammatisch differenzierte Sprachen, beispielsweise mit Subjekt-Prädikat-Relationen, entwickelt haben. Aus der Zeit von 40 000 bis 30 000 v. Chr. kennen wir zwar vielgestaltige Manifestationen einer Symbolbildung (beispielsweise in den spanischen und französischen Bilderhöhlen); ob diese Bilder und Symbole auf irgendeine Sprache verweisen, ist nach wie vor völlig unklar, ja vielleicht sogar unwahrscheinlich, wenn man an die Anatomie des Sprechapparats bei den Neandertalern denkt. Dennoch war es das Haus der Sprache, an dem auch Heidegger, bei aller Kritik an der Anthropologie, festhielt: Nur durch den Einzug ins Haus der Sprache habe der Mensch sich endgültig und unüberschreitbar von den Tieren getrennt. Ich glaube dagegen, daß Menschen und Tiere gemeinsam in das Haus der Sprache eingezogen sind: Gehört haben sie wohlzuerst – nach der These von Julian Jaynes – Befehle und Imperative.
    Sloterdijk: Nach den jüngsten Aussagen von Genetikern besitzt homo sapiens mit den Schimpansen 99,4 Prozent des Erbguts gemeinsam, da läuft es jedem Anthropozentriker kalt über den Rücken. Folglich liegt die ganze anthropologische Differenz, die den Bruch mit der Animalität hervorbringt, in diesem winzigen Rest verborgen – soweit sie überhaupt biologisch zu verorten ist. Man versteht angesichts solcher Angaben sofort, daß Genetik nicht ausreicht, um das menschliche Phänomen zu begründen. Wir müssen vielmehr eine topologische Differenz in Anschlag bringen, um zu erklären, was eigentlich geschieht, wenn Großaffen Menschen werden. Topologische Differenz – das heißt:

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