Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Welle soziologischer Aufklärung gelangen will. Man muß verstehen, daß Gesellschaften sich über Atmosphären selbst steuern und klimatisieren. Die Themen, über die wir reden, sind eine semantische Klimaanlage. Alles spricht dafür, daß die im Moment bei uns falsch eingestellt ist.
Kahl: Man ist sozusagen Untermieter der Welt, für kleine Reviere zuständig, aber nicht für die Atmosphäre, nicht für das Zwischen. Dafür werden »der Staat« und »die Gesellschaft« verantwortlich gemacht.
Sloterdijk: Und das führt zu Flucht, Lähmung oder Vermeidungspanik. Man fühlt sich gefangen im »System«. Darüber wird heute die Angestellten- und Beamtenpsychologie abgewickelt. Statt dessen müssen wir von einem gut verstandenen Unternehmer-Gedanken her, einem Lebensunternehmer-Gedanken, auch die öffentlichen Dienste reanimieren. Dann wird man vielleicht eine neue Generation von Lehrern entstehen sehen. Ich glaube, der Impuls dafür muß von Künstlern und von den freien Medien ausgehen. Philosophie und Kunst setzen den Ton, sie stimmen die allgemeine Atmosphäre neu.
Kahl: Vielleicht sollte man damit anfangen, sich eine andere Schule architektonisch vorzustellen. Wenn man Klassenräume sieht, in denen alle in Reih und Glied sitzen, da fällt einem ja nichts mehr ein.
Sloterdijk: Das 19. Jahrhundert hat Schulen, Museen und Kasernen gebaut. Das sind drei Klimaanlagen, um die soziale Synthese mit Hilfe staatlicher Menschenprägungstechniken vorzuformen. Man muß die Schule aus dieser Tradition befreien. Es ist zu hoffen, daß die Idee einer neuen Schule in den nächsten Jahren genug politisiert wird, um eine neue Phase des Experimentierens zu ermöglichen. Wenn wir das Glück hätten, in nächster Zeit einen richtigen, produktiven Bildungsskandal zu bekommen …
Kahl: … könnte ja passieren …
Sloterdijk: … das Material dafür ist da, dann könnte man nach der Abreaktionsphase, in der man die Pflicht und die Neigung zu klagen gemeinsam abgearbeitet hat, in eine produktive Diskussion eintreten und versuchen eine Schule zu entwerfen, die auf der Höhe unserer Erkenntnisse steht. Die Zeit dafür ist reif, was die Akkumulation von Unbehagen anbelangt. Aber was die Positivkräfte angeht, da wird man das wenige, was uns geblieben ist, erst noch mal neu aufstellen müssen, um zu sehen, ob es für eine Offensive reicht.
Kahl: Wie anfangen? Käme es nicht erst mal darauf an, andere Erwachsene als nur lebenslange Lehrer, in Schulen zu holen. Daraus könnte eine Art Koevolution werden. Wenn Lehrer sich als Menschensammler betätigen, die »Dritte« in die Schulen holen, werden sie dabei selbst erwachsener. Das bekommt ihnen und den Schülern.
Sloterdijk: Das wäre ein erster Schritt. Zugleich muß in den Medien ein neuer Blick auf Menschen aufgebaut werden. Ich denke, es wäre nicht allzu schwierig zu zeigen, daß interessante Leute faszinierender sind als irgendeine durchschnittliche Unterhaltung. Wenn nicht der Faszinationswert bei der Beschäftigung mit einem lebendig erwachsen gewordenen Menschen größer wird als irgendwelche Regressionsangebote von Sex, Crime und Co, dann haben wir das Spiel verloren. Es wären in den Medien Fenster aufzumachen …
Kahl: … und überall die »Dritten« reinzuholen.
Sloterdijk: Genau. Wir kennen die interessanten Menschen unserer eigenen Gesellschaft nicht. Das heißt, unsere Gesellschaft kennt sich selber nicht, und weiß nicht, daß sie sich nicht kennt. Wenn man diese Begeisterung für interessante Menschen medial durchsetzt, bringt man auch in Schulen einen neuen Lernprozeß in Gang, starke Menschen mit interessanten Tätigkeiten zu holen. Das wäre eine weit angelegte Bewegung zur Entprofessionalisierung des Unterrichts.
Kahl: Eltern werden fürchten, ihre Kinder lernen dann nichts mehr.
Sloterdijk: Paniken aus dem Verdacht, es würden bei der Qualifikation Zugeständnisse gemacht, kann man begegnen, wenn man verdeutlicht, daß nichts so bildend wirkt wie die Gelegenheit, erfolgreichen Leuten aus der Nähe zusehen zu dürfen. Das ist, nebenbei gesagt, auch im Hinblick auf die Kunsthochschulen meine Antwort auf das nicht mehr haltbare Meisterklassenprinzip. Wenn man vom Meistergedanken irgend etwas retten möchte, dann muß man ihn in diese Form übersetzen: erfolgreichen Kunstmachern bei ihrem Handwerk zuzusehen und ihre Erfolgskurve zu beobachten. Das ist unter allen Umständen lehrreich, egal ob der Schüler durch positive Anknüpfung oder durch Ablehnung reagiert.
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