Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
komplexes und kopfloses Gebilde selbst steuern? Wenn moderne Gesellschaften wie Kirchenorganisiert wären, dann wäre zum Beispiel die Telekom zugleich der Netz- und Content-Provider der Demokratie. Das ist ein schönes ekklesiologisches Phantasma: Wenn wir doch so wären wie Kirchen, dann bliebe uns der Eindruck erspart, daß kein echter innerer Zusammenhang in der Gesellschaft besteht, wir wären dann Glieder eines kommunitarischen Großkörpers. Ich entsinne mich einer Karte, die mir Dietmar Kamper einmal gezeigt hat. Sie stammte von einem mittelalterlichen Mönch, der den Leib Christi in der Kruzifixushaltung über die Landkarte Europas projiziert hatte, so daß die Punkte, die die Klöster in Europa darstellten, in der Synopsis so etwas wie eine Visualisierung des Corpus-Christi-Phantasmas ergaben. Eine mystische EU .
    Frank: Was ist heute eine Gesellschaft, wenn sie das nicht ist?
    Sloterdijk: Wie kann man überhaupt sozialen Zusammenhang denken, wenn man die Gesellschaft insgesamt als einen Körper ohne Zentralorgan beschreibt – das ist die Frage.
    Frank: Und die Antwort darauf?
    Sloterdijk: Wäre eine zeitgemäße Medientheorie, und an der arbeitet eine Reihe von Leuten in der zeitgenössischen Szene. Denken Sie an die Arbeiten von Norbert Bolz oder von Friedrich Kittler oder von Jochen Hörisch, um jetzt nur die Älteren zu nennen. Das sind drei intellektuelle Generationsgenossen, mit denen ich mich verbunden fühle, weil ich eine analoge Arbeit mache. Diese drei kennen auch, jeder auf seine Weise, analoge Formen des Ärgers mit ihren alten Genossen.
    Frank: Dieselbe akademische Allergie gegen neue Ansätze?
    Sloterdijk: Diese Autoren sind Testmittel, an denen man das Ressentiment des Milieus überprüfen kann. Es sind heitere Theoretiker, die ihre intellektuelle Praxis auch als Freiheitspraxis verstehen. Sie sind aus meiner Sicht partners in crime. Wir sind Atmosphärenverbrecher innerhalb einer Kulturgesellschaft, die nach wie vor ein Definitionsmonopol für moralischen Smog reklamiert. Da sind solche Aufklärer oder Aufklarer zunächst einmal unwillkommen. Ich bin aber überzeugt, daß ihre Arbeiten in einer Generation kanonisch sein werden. Und daß wir, so seltsam das klingt, auch heute einen Avantgarde-Effekt haben. Doch das intellektuelle Feld läßt nicht mit sich spaßen, wenn man ihm sagt, man sei ihm in irgendeiner Hinsicht voraus – da kommt man ins Fegefeuer wie ein Zurückgebliebener.
    Frank: In Ihrem Hauptwerk Sphären entwickeln Sie eine Theorie der »beseelten Räume«, von Blasen über Globen bis zu Schäumen …
    Sloterdijk: Ich glaube, daß Schaum die verbindliche Metapher ist für Raumvielheiten, bei denen der Satz »Träume sind Schäume« nicht mehr gilt. Die substantialistische Aversion gegen das Flüchtige, das Leichtzerbrechliche – gegen den Schaum – ist also nur eine Gedankenlosigkeit. Wenn man sich über Vielkammersysteme unter raumlogischen Prämissen Gedanken macht, dann vergeht einem sehr schnell die Lust, Schaum als Metapher für Verächtliches zu benutzen. Im Gegenteil: Wir merken, daß Schaum ein kosmogonisches Prinzip ist, ohne das Leben und Umwelteffekte gar nicht möglich wären. Aber das ist ein Thema, das ich mit darstellerischer Ruhe entfalten will. Darüber können wir, wenn alles gutgeht, in anderthalb Jahren noch einmal reden.
    Frank: In Sphären II haben Sie geschrieben, eine Stadt zeige in der Vertikalen, was sie in der Horizontalen vorhat. War denn, nach Ihrer Theorie, der Angriff auf das New Yorker World Trade Center nicht auch eine vernichtende Attacke auf semantischer Ebene?
    Sloterdijk: Der islamistische Terror führte einen Schlag, der auf der Ebene der real existierenden Symbolik angesiedelt ist, weswegen der Gegenschlag der Amerikaner auch so eigenartig stumpf und hilflos bleibt. Weil der Angreifer nicht symmetrisch zu treffen ist. Das starke Symbol, das er besitzt, wagt man nicht anzugreifen. Man muß sich einfach mal überlegen, was im Weltbild der Islamisten das Gegenstück ist zu dem, was sie glauben, daß es das World Trade Center für uns sei. Da kommt man aufeine sehr kleine Anzahl von Objekten. An der ersten Stelle wäre vielleicht der Felsendom in Jerusalem zu nennen, an zweiter Stelle die Kaaba in Mekka. Wer könnte es verantworten, Militärschläge gegen diese beiden Objekte zu führen?
    Frank: Aber auf der Ebene des Symbolischen wird ja bereits ein Krieg geführt.
    Sloterdijk: Was den Amerikanern und ihren Freunden in der westlichen Welt

Weitere Kostenlose Bücher