Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
hier liegt eine konstitutive Verrückung vor, und diese ist es, die zur Kultur führt. In meinen Augen ist die Menschwerdung der Nebeneffekt einer einzigartigen Verwöhnung. Die »Verwöhnung« des Menschen läßt ihn ins Haus der Sprache einziehen. Natürlich bin ich mir bewußt, daß der Ausdruck »Verwöhnung« in den Ohren der meisten empörend klingt – vor allem bei denen, die Menschen ohnedies eher für arme Teufel halten. Zumindest seit dem 18. Jahrhundert gilt »Verwöhnung« als eine der schlimmsten Aussagen, die Menschen über Menschen machen können. Vor nichts haben sich die Pädagogen und Moralisten so sehr gefürchtet wie vor dem Phänomen Verwöhnung –, und dies in gewisser Weise aus gutem Grund, denn in dieser Furcht verbirgt sich auch eine Einsicht von größter Tragweite. Ich behaupte nun, daß die Verwöhnung die conditio humana schlechthin ist – und wer von Verwöhnung nicht reden will, sollte vom Menschen schweigen. Die Anthropologen des 18. Jahrhunderts haben in der Tat von Verwöhnung geredet, wenn auch nicht in theoretischer Hinsicht, sondern moralisierend und mahnend: Alles, nur niemals ein Zugeständnis an die Verwöhnungstendenz machen! – das war quasi der kategorische Imperativ der bürgerlichen Pädagogik. Sie haben, behaupte ich, homo sapiens so sehr als einverwöhnungsgefährdetes Wesen begriffen, daß sie nicht anders als in Form von Warnungen von seiner Konstitution reden konnten. Der Alarm war auch diesmal schneller als die Theorie. Nach zweihundert Jahren aversiver Verwöhnungsdiskurse ist jetzt der Moment gekommen, in dem man den Ausdruck neutralisieren und ihn zum deskriptiven Ausdruck umwandeln kann. Was geschieht, wenn die Blockade wegfällt, hinter der die Phänomenologie der Verwöhnung bisher verborgen lag? Wenn nicht länger Pädagogen die Szene beherrschen, die aus Menschen tüchtige Bürger, Soldaten, Untertanen machen möchten? Wenn die Traditionen der Erziehung zur Abhärtung nicht mehr zum Zuge kommen und keine militaristische Alchemie den Ton angibt? Zum ersten Mal kann man einen ruhigen Blick auf das ungeheure Massiv der Verwöhnungstatsachen werfen – und damit ist der Moment gekommen, in dem die Philosophie wirklich der Anthropologie begegnet. Hier erst findet das Rendezvous zwischen beiden statt – und alle früheren Versuche der sogenannten philosophischen Anthropologie waren voreilig und begrifflich falsch angelegt, weil eben der Kernbegriff, der der Verwöhnung, entweder fehlte oder nur verzerrt zur Wirkung kam. Gehlens Hinweis auf die Instinktverlassenheit des Menschen ist noch zu vage und zu negativ formuliert. Zwar stimmt die Peilung, aber man hört noch viel zu sehr den Pädagogen durch, der nach der harten Hand der Institutionen ruft, um dieses verweichlichte, biologisch unmögliche Wesen anzufassen und ihm Halt zu geben. Bei Plessner geht es, wenn schon in liberaler Brechung, ganz ähnlich und ebenso unzulänglich zu. Es genügt eben nicht zu sagen, daß homo sapiens sein eigener Zuschauer ist – so tiefsinnig eine solche Diagnose sein mag. Im Grunde handelt es sich bei dieser Aussage um eine anthropologisch heruntergebrochene Transzendentalphilosophie: Wenn der Mensch sein eigener Zuschauer ist, heißt dies, daß er immer zugleich Täter seines Lebens und der Beobachter desselben ist. Er lebt sein Leben und steht neben sich. Nichts anderes meint die Formel von der exzentrischen Positionalität,die Plessner bekannt gemacht hat. Weil Leben in menschlicher Form, wie man hört, etwas ist, das nicht einfach dahingelebt werden kann, sondern geführt werden muß, kann man von homo sapiens sagen, er stelle die Union zwischen dem Zu-Führenden und dem Geführten dar. Schön und gut. Aber dies reicht nicht aus, weil damit das Grundproblem noch nicht erfaßt wird – die Verwöhnungsdynamik, die den Menschen aus der Natur hinauskatapultiert. Ich benutze gelegentlich ein Bild, wonach homo sapiens ein Raumfahrer ist – er sitzt in einer Verwöhnungsrakete und wird ins Weltall hinauskatapultiert: Wir leben immer schon in einer Raumstation der Verwöhnung, und doch merken wir es in der Regel nicht, weil es zu den Merkmalen der Verwöhnung gehört, daß sie sich selbst auf jeder erreichten Stufe naturalisiert und zur Selbstverständlichkeit erklärt. Als selbstverständlich wird die Verwöhnung in den Hintergrund gestellt und dethematisiert. Man muß als Theoretiker sehr kaltblütig werden und sich in einen Zustand methodischer Asozialität versetzen, bevor
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