Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Beides ist gleich informativ, vorausgesetzt, man hat eine authentische Chance, einekreative Person in voller Aktion zu beobachten. Genau das ist das Konzept unserer Karlsruher Schule.
Kahl: Dialoge, die diesen Namen verdienen, bestehen aus differenzierten Zustimmungen und Verneinungen.
Sloterdijk: Wenn die Chance zu einer produktiven Skepsis gegenüber einer Erfolgsposition eingeräumt wird, ist es nie verlorene Zeit. Selbst wer sich abwendet, hat sich viel abgeschaut. Vielleicht leben wir in einer Zeit, in der die Menschen mehr durch Ablehnung lernen als durch Anlehnung. Der feige Lehrer ist der schlechte Lehrer. Der gute Lehrer ist der, der sich für Ablehnung zur Verfügung stellt. Das gilt auch für gute Schriftsteller, die immer so viel riskieren müssen, daß es sich lohnt, sie abzulehnen.
Kahl: Da wären wir beim sloterdijkschen Begriff »Entidiotisierung«: Verausgabung seiner eigenen Dummheit, denn wie soll man sie sonst loswerden?
Sloterdijk: Wie soll man sie loswerden, wenn nicht im Umgang mit potentiellen Nachahmern, die so schlau sind, in letzter Minute die Nachahmung zu verweigern?
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[ 10 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Reinhard Kahl erschien unter dem Titel »Lernen ist Vorfreude auf sich selbst« in Pädagogik (Beltz, Weinheim) (53/2001, S. 40-45).
Reinhard Kahl ist Journalist und Filmemacher.
Von Postboten und eingestürzten Türmen
Im Gespräch mit Arno Frank [ 11 ]
Frank: Herr Sloterdijk, mit welchem Mandat drängen Sie ins Fernsehen?
Sloterdijk: Sicher nicht mit dem Mandat des Weltgeistes. Eher aus dem Gefühl, daß angesichts der Dekadenz der Universität die Philosophie sich mit anderen Medien verbünden soll.
Frank: TV -Philosoph – ist das Ihre Mission?
Sloterdijk: Man kann jede Tätigkeit, die ein Mensch ausübt, unter zwei verschiedenen Beleuchtungen beschreiben. Einmal kann man es als Mission darstellen, ein anderes Mal als Bedürfnis. Wenn man es als Mission beschreibt, dann glaubt man, daß das Individuum eine Idee oder einen Herrn hinter sich hat, die oder der ihn nach vorne schickt. So bequem ist das in meinem Fall nicht. Ich habe keinen Herrn und keine obsessive Idee, die an meiner Stelle entscheiden, was ich tun muß. Wäre das so, dann wäre mir im Moment viel wohler.
Frank: Warum?
Sloterdijk: Dann dürfte ich sagen: Ob es gutgeht, ob es nicht gutgeht, die Verantwortung liegt allemal bei der Idee beziehungsweise beim Absender. Ich wäre nur der Überbringer, der Postbote, und gäbe meine Botschaft ab, ohne für den Erfolg dieser Botschaft haftbar zu sein.
Frank: Demnach bliebe die andere Version …
Sloterdijk: Man muß es als Ausdruckshandlung interpretieren, das heißt, ich brauche die Motivreihe nicht bis hinter denAutor zurückzuverfolgen. Sie kann also beim Autor beginnen. Das heißt, der Autor drückt sich selber aus, er ist ein Spannungsfeld von Energien, die sich in diese Richtung und keine andere zu entladen wünschen.
Frank: Ein Medium im Medium also. Aber das Rampenlicht ist nicht der angestammte Platz eines Philosophen …
Sloterdijk: Im Studio gibt es keine Rampe. Im traditionellen Theater existierte eine Grenze zwischen Bühnen- und Beobachterraum. Auf dem Fernsehpodium ist man von Beobachtern umzingelt, die Fernsehsituation ist ja wie eine Einkreisung. Die Frage ist: Was kann einen Menschen motivieren, sich von Beobachtern umzingeln zu lassen?
Frank: Exhibitionisten lieben diese Situation.
Sloterdijk: Mag sein. Doch das ist nun meine Sache ganz sicher nicht.
Frank: Keine Eitelkeit?
Sloterdijk: Ich bin ein Mensch, der, auch wenn er sich zeigt, eine unbeobachtete Seite behalten möchte. Ich habe eine rätselhafte Aversion gegen die Vorstellung, daß Menschen mich von der rechten Seite anschauen.
Frank: Im übertragenen, politischen Sinne?
Sloterdijk: Nein, räumlich. Im Fernsehen kann man nicht wie eine Pfeilerfigur in einem gotischen Dom mit dem Rücken zur Säule stehen und sich vorstellen: Ich ziehe Kraft aus dem Stein. Das Fernsehen ist ein kannibalisches Medium, das Menschen optisch auffrißt. Wir machen ein Experiment mit dem Gefressenwerden.
Frank: Sie haben kürzlich vorgeschlagen, Nationen als Institutionen zu interpretieren, die konzentrierte Post- und Verkehrssysteme aufspannen – mit Telekommunikationsunternehmen als säkularen Kirchen. Wie ist das zu verstehen?
Sloterdijk: Die modernen Mediengesellschaften haben kein Gehirn, kein Zentralorgan, nur Verdichtungen im Nervensystem. Wie soll sich ein solches
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