Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
monotheistischen Führungsvolkes zu besetzten. Und wer ein treuer Anhänger Allahs ist und sich so positioniert, hat natürlich ein Problem mit Amerika. Die USA sind derzeit die siegreich amtierende Theokratie.
Frank: Ein Gottesstaat? Wie das?
Sloterdijk: Amerika besetzt genau die Stelle zur Rechten Gottes, die nur einmal zu besetzen ist. Man könnte sagen, es folgt darum ein Jakob-und-Esau-Problem auf weltpolitischem Niveau, die reinste Form eines Theodramas. Wir beobachten zwei ineinander verhakte Kreuzzüge – ein orientalistischer und ein okzidentalistischer Kreuzzug sind in verblüffender Symmetrie ineinander verschränkt. In einem Artikel für Le Monde hat René Girard, der große Analytiker der Dreieckskonflikte, versucht, das aufzuzeigen. Der Kampf der Nachahmungseifersüchte bezieht sich auf ein Gut, das innerhalb dieses Wettbewerbes erst konstituiert wird, nämlich das Privileg, die Kultur zu sein, auf der die Hand des Einen Gottes am sichtbarsten ruht.
Frank: Woran erkennen Sie das?
Sloterdijk: Auf der einen Seite sagt Bush: Im Kampf zwischen Amerika und seinen Feinden ist Gott nicht neutral – das21. Jahrhundert wird eine Versuchsanordnung werden zur Abwicklung des manischen Inhaltes dieses Satzes. Auf der anderen Seite heißt Bin Ladens Kernsatz: Was in New York geschehen ist, ist guter Terror. Je früher die Menschen die Symmetrie zwischen diesen Aussagen begreifen, um so besser für uns.
Frank: Und in Europa?
Sloterdijk: Europa wird nur dann eine erfreuliche Entwicklung nehmen, wenn es versteht, worin in diesem Fall seine Vorteile und seine Stärken liegen.
Frank: Welche wären das?
Sloterdijk: Es ist der Vorteil, über eine vorbehaltvolle oder sagen wir lieber ironische Unterstützung der Vereinigten Staaten hinaus in dieser Angelegenheit keine Interessen zu haben. Europa ist bereits in eine postmonotheistische Situation eingetaucht. Das wäre vielleicht die positivste Definition, die man für die Einführung des Euro geben könnte. Wenn man sich in der schönen Kunst des positiven Denkens ganz weit vorwagen will, dann beschreibt man den Vorgang des 1. Januar 2002 in einer solchen Terminologie: Die Währungsunion ist der Vollzug der Einsicht, daß wir bereits in einer postimperialen Struktur leben, in der die Idee des kulturell oder quantitativ Großen die Abkoppelung von den manischen Antriebsprogrammen der Imperialkultur vollzogen hat. Wenn sich das stabilisiert, dann wird Europa den Vereinigten Staaten auf längere Sicht als Heimstätte der Lebenskunst den Rang ablaufen.
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[ 11 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Arno Frank erschien unter dem Titel: »Ich bin nicht der Postbote« in der taz (19. Januar 2002, S. 3f.).
Arno Frank ist taz -Redakteur.
Den Kopf heben:
Über Räume der Verwöhnung und das Driften in der Zeit
Im Gespräch mit Thomas Macho [ 12 ]
Macho: Die mögliche Verbesserung, Perfektionierung und Optimierung des Menschen ist, so würde ich gern beginnen, ein Projekt, das erst seit wenig mehr als zwei Jahrhunderten gedacht und geplant wird. Zeit – als Vergangenheit wie Zukunft – ist eigentlich kein Thema vorindustrieller Agrarkulturen. Zweifellos verfügen diese Kulturen über Ursprungserzählungen, über mehr oder weniger detaillierte Chroniken und über – zumeist apokalyptische – Vorstellungen von der Zukunft. Aber die Horizonte der Erinnerung sind ebenso begrenzt wie die Horizonte der Planung. Noch im 18. Jahrhundert konnte man – als Gelehrter – mit dem aus den biblischen Texten errechneten Schöpfungsdatum operieren: dem 7. Oktober 3761 v. Chr.; und aus der Erzählung vom ägyptischen Josef erfahren wir auch, daß in einem Großreich, einer schriftgestützten Hochkultur der Alten Welt, ein Mann mit einem Planungshorizont von zwei mal sieben Jahren zum Chefberater des Pharaos aufsteigen konnte. Zeit ist für Agrarkulturen schlicht eine Funktion des Schicksals. Erst im 19. Jahrhundert ist die Geschichte der Erde und des Lebens, erst recht die Geschichte der Menschen, als Zeitspanne sichtbar geworden, die in Jahrmillionen gerechnet werden muß; vielleicht erst im 20. Jahrhundert wurde die Zukunft – mit Hilfe neuer Wissenschaften wie der Statistik und Prognostik – als unabsehbar offenes Kontinuum aufgespannt. Politik, Ökonomie und neue Technologien, deren Folgen oft nach Jahrtausenden abgeschätzt werden müssen, erzwingen ein Denken im Futur, das auf keine historischen Vorbilder zurückgreifen kann. Seither wissen wir genauer, was es
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