Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
normaler Häme behandelt. Das beweist, ringsum hat man sich an den vormals unheimlichen Nachbarn gewöhnt. Vorher, während der deutschen Resozialisierungsphase, beleidigte man den ehemaligen Delinquenten besser nicht. Da beobachtete man mehr oder weniger nervös, was aus dem Tunichtgut in der Völkerfamilie noch werden kann. Jetzt endlich sind wir, die notorischen Ausreißer der Geschichte, vom Hauptfeld eingeholt worden.
Matussek: Also findet das Land in der Krise zu seiner Normalität?
Sloterdijk: Jedenfalls haben die Deutschen durch ihr Zurückfallen von der Spitze aufgehört, Sonderschüler der Demokratie zu sein, bei denen man dauernd den Schulpsychologen bestellt. Sogar die wachsamen Mahner, die den Deutschen Rückfallneigungen und Mördergene andichten wollten, haben es jetzt um vieles schwerer. Kein Volk kann gewöhnlicher sein, als die Deutschen es heute sind.
Matussek: In den achtziger Jahren haben Sie die herrschenden Verhältnisse als »unglücklich aufgeklärt« beschrieben –und dagegen den heiteren, subversiven Einspruch gesetzt. Heute herrscht auf der Linken Flaute. Wo ist der große Drang nach Veränderung geblieben?
Sloterdijk: Man sollte im Rückblick nicht übertreiben. Als meine Kritik der zynischen Vernunft erschien, 1983, hatte sich die radikale Linke hauptsächlich mit tragikomischen Wiederholungsszenarien aus den dreißiger Jahren beschäftigt. Wir haben von 1967 bis zur Baader-Meinhof-Krise 1977 Volksfront gespielt und tapfer Hitlers Aufstieg verhindert. Doch immerhin, man hatte ein Drehbuch, auch wenn es um ein halbes Jahrhundert verrutscht war. Heute hingegen fehlt ein Spielplan für die Linke, ob gemäßigt oder radikal. Die Altersgruppe, die jetzt in Stellung ist, bildet die verwirrteste Generation der deutschen Geistesgeschichte.
Matussek: Die 68er sind an der Spitze der Gesellschaft angekommen. Ist das ein beklagenswerter Zustand?
Sloterdijk: Die verwirrte Generation kann nur Verwirrung weitergeben. Das tut sie erfolgreich.
Matussek: Bringt nicht Schröder jetzt jene Reformen auf den Weg, die eigentlich die CDU in den achtziger Jahren hätte betreiben müssen?
Sloterdijk: Man sollte vielleicht begreifen, daß das deutsche Parteiensystem seit bald 25 Jahren den Wählern die Auswahl zwischen vier Spielarten von Sozialdemokratie anbietet: Die Einheitspartei des Wohlstands verteilt sich über das ganze sogenannte politische Spektrum.
Matussek: Das hat der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl als erster verstanden, indem er seine Politik sozialdemokratisierte. Seine Ära wurde geprägt durch den Glücksfall Deutsche Einheit – und all das, was liegenblieb.
Sloterdijk: Kohl ist und bleibt der unbestrittene Herr der deutschen Lethargie. Er hat die Deutschen ans Ende der Geschichte geführt. Das Versprechen der Nachgeschichte, allgemeine Lethargie bei hohem Wohlstand, hat er mit sichtbarem Erfolg somatisiert. Seit schlankere Männer an der Regierungsind, wird es entschieden ungemütlicher. Man droht uns sogar den Wiederbeginn der Geschichte an.
Matussek: Auch die neuen Männer werden wieder dicker.
Sloterdijk: Keiner kann Kohl auf der Waage schlagen. Nun aber kommen die neuen Ungemütlichen und möchten die deutsche Lethargokratie in den Wettbewerb mit den Besten der Welt zurückführen. Kein Wunder, daß die große Mehrheit, wie zu erwarten, sagt: Moment mal, das war nicht ausgemacht! Für Spitzenleistung haben wir nicht trainiert! Darum nehmen so viele Journalisten und Soziologen den deutschen Fußball als Orakel der Nation ernst. Auch auf dem Rasen zeigt sich, daß man mit Selbstlob allein nicht immer durchkommt.
Matussek: Es scheint, daß in Deutschland zum ersten Mal Armut ganz offiziell geduldet wird – das ist doch bisher unerhört gewesen in der deutschen Mitte- und Konsensgesellschaft.
Sloterdijk: Die Agenda 2010 enthält nichts, was nicht schon Kohl vor 20 Jahren hätte auf den Weg bringen müssen. Jetzt muß eben sein Nachfolger die Operationen der anderen Seite übernehmen. Die übliche SPD -Tragik, nebenbei. Was die neue Sichtbarkeit der Armut angeht, so hat das auch mit dem Verschwinden des deutschen Sonderklimas nach 1945 zu tun: Damals, als das ganze Land aus Verlierern bestand, war die sozialpsychologische Klammer ums Ganze viel dichter als heute. Der Wiederaufbau war eine kollektive Anstrengung. Inzwischen wird das Verlierersein wieder mehr als eine Sache einzelner gedeutet.
Matussek: Stimmt die These vom abgeschlossenen Wiederaufbau eigentlich? Berlin zum
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