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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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sich dem Ende zu. Was hat der Philosoph in ihm erkannt?
    Sloterdijk: Zuerst dies: Drei Todesfälle im Herbst, die vielleicht eine Konstellation bilden. Zunächst der Tod von Jacques Derrida: der letzte der Großen unseres Faches. Ein ferner Kollege, und doch präsent wie ein Freund oder ein Gewissen. Als am Buchmessensamstag die Nachricht aus Paris eintraf, wurde es auf dem Suhrkamp-Stand ganz still, als ob die Zeit anhielte. Wenige Wochen später: Da beginnt die makabre Agonie des Jassir Arafat, der in einem französischen Militärkrankenhaus als lebende Leiche, gehirntot, da lag, aber offiziell noch nicht tot sein durfte. Er mußte als Staatsoberhaupt weiter seinen Dienst tun, während an seiner Quasi-Leiche über Ämter und Millionen gefeilscht wird. Man denkt unweigerlich an die mittelalterliche Legende des El Cid, der noch als Toter auf einen Pferderücken geschnallt wurde, um seine Truppe in die Schlacht zu führen. Fragt sich nur, auf welchem Pferderücken Arafats Leiche in diesen Tagen saß. – Ein paar Tage davor der dritte Todesfall: die Ermordung eines Filmregisseurs von mäßigem Talent, aber großem Namen, abgeschlachtet auf offener Straße und in einer Weise, die klarstellte, daß es hier nicht nur um eine Exekution ging, sondern um eine Exkommunikation, die Verschiebung eines Menschen unter das Schlachtvieh. Das Bekennerschreiben verrät weniger die Handschrift des Terrors als die des zornigen verletzten Glaubens.
    Poschardt: Und was haben diese drei Todesfälle gemeinsam?
    Sloterdijk: Sie bilden eine Art von thanatologischem Kolloqium, indem sie etwas über die exemplarischen Todesarten unserer Zeit sagen. Der Philosoph stirbt nach einem langen, höchst bewußt gestalteten Abschied an der Geißel der postmodernen Menschheit, dem Krebs, einem Übel, das keiner Aufklärung, keiner Dekonstruktion gewichen ist. Jassir Arafat stirbt als Ikone und Zombie und Theo van Gogh als Fanatismusopfer, weil er versucht hatte, Voltaires Kampfruf gegen die repressive Kirche écrasez l'infame! auf den Islam zu übertragen.
    Poschardt: Welcher Tod hat sie am stärksten beschäftigt?
    Sloterdijk: Auf der persönlichen Ebene natürlich der von Derrida, aber als Emblem der Weltlage war Arafats Ende nicht zu übertreffen. Er ist als Feind Unzähliger gestorben, als ein Depot der Flüche von Millionen, so sehr er auch für viele andere ein Votivbild war, in das sie ihre Hoffnungen legten. Ethnologisch gesprochen war er ein Nagelmann, vergleichbar einem jener kongolesischen Fetische, in die mit Nägeln Flüche eingehämmert werden. Er war der Fetisch-Mensch des letzten Vierteljahrhunderts par excellence.
    Poschardt: Am Ende war er eine leblose Marionette seiner Frau – eine hübsche Pointe gegen die latente Mißachtung der Frau im Islam?
    Sloterdijk: Die Rache der Frau fand statt, als sie ihn heiratete. Nietzsche sagte gelegentlich: »Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie.« Wohin gehört ein verheirateter Terrorist? Dergleichen paßt nur in die Schauer-Satire des Nahen Ostens. Er war im übrigen der einzige Staatsmann der Gegenwart, der den Namen »Terrorist« insgeheim als Ehrentitel trug. Seit Churchill hat das niemand mehr getan.
    Poschardt: Churchill?
    Sloterdijk: Selbstverständlich. Als er den Bombenkrieg gegen Deutschland anordnete, hat er sich selbst als Terroristen bezeichnet. Damals war die Wortgeschichte noch offener als heute, und da Churchill meistens wußte, was er tat, bekannte er sich auch zu seinen Mitteln.
    Poschardt: Gab es das Wort nicht schon früher?
    Sloterdijk: Sicher, der moderne Terror hat eine längere Geschichte und geht zurück bis zum jakobinischen Gebrauch der Guillotine. In Italien nannte man im 19. Jahrhundert einen bombenlegenden Anarchisten » dinamitario «, was doch eine hübsche Berufsbezeichnung ist, ganz Hardware-orientiert. Der heutige Terrorbegriff ist hingegen sehr zeitgeistig, also Soft-ware-betont und durchwegs wirkungsästhetisch gedacht. An Churchills Konfession erkennt man, daß die Wortgeschichte damals noch nicht entschieden war. Wenn der Schrecken das Mittel ist, Hitler zu besiegen, dann muß man sich auch zu ihm bekennen und den Titel Terrorist wie einen Orden tragen. Das hat Churchill getan. Arafat hatte hierzu seine eigenen Ideen.
    Poschardt: Aber dann wäre Terror in diesem Sinne eigentlich immer ein Mittel oder Aspekt der Politik. Im Sinne der Wehrhaftigkeit eines Rechtsstaates gehört er zu seinem Gewaltmonopol.
    Sloterdijk: Das ist völlig richtig.

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