Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Politik ist immer auch ein Modus, wie der Staat seine Erscheinung vor dem Volk organisiert. Der erhabene Staat muß selber den Schrecken, den er einflößt, verwalten. Er ist verantwortlich für die Aura, die ihn, das »kälteste Ungeheuer« umgibt, um noch einmal mit Nietzsche zu reden. Also muß er nicht nur seine Hoheitssymbole unbeschädigt halten, er hat auch die Epiphanien seines Gewaltkerns zu managen, denken Sie an die Militärparade am 14. Juli. Bei Carl Schmitt steht der Satz: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Ein solcher Zustand tritt ein, wenn die latenten Schreckensmittel in aktuelle umgewandelt werden. Souverän ist also, wer über die Möglichkeit verfügt, glaubhaft zu drohen.
Poschardt: Wäre dann der demokratische Politiker eine Art kastrierter Terrorist?
Sloterdijk: Demokratie heißt Terror nicht mehr nötig haben. Die Karrieren von Castro und Arafat, aber auch von Menachim Begin, weisen den Weg vom Terror in die Legalität. Der Titel kastrierter Terrorist paßt jedenfalls auf Figuren wie Castro und Arafat recht gut, obwohl es weniger um Kastration geht als um Befriedung.
Poschardt: Arafat war der geschickteste Machiavellist?
Sloterdijk: Er war bereits Chef der PLO , als 1972 der Überfall auf das Olympische Dorf in München stattfand, bei dem nicht wenige israelische Sportler starben. Schon da zeigte er sein Talent als Medienpolitiker, denn wer die Olympischen Spiele erfolgreich stört, wird ein Weltstar. Im November 1974 sprach Arafat in New York vor der UNO und erzielte für die PLO einen enormen Prestigegewinn. Mit dem Münchener Drama begann auch die heiße Phase des Bündnisses zwischen dem Terror und den Medien – das war die Stunde Null des mediatisierten Schreckens. Mit dem von Hegel untersuchten und partiell legitimierten Terror der Französischen Revolution hatte das nichts mehr zu tun, auch nicht mit den biederen Nihilisten, die regelmäßige Anschläge auf den Zaren verübten. Bekanntlich hatte der Autor der Phänomenologie des Geistes das jakobinische Morden als Raserei der abstrakten Subjektivität bezeichnet, die alles aus dem Weg räumt, das ihrem hohlen Streben nach Freiheit im Weg steht.
Poschardt: Das hat den Schwaben Hegel erschreckt?
Sloterdijk: Ich denke nicht. Hegel war kaltblütig, oder, was dasselbe ist, er verstand alles. Er hat im Terror den Preis gesehen für einen Lernprozeß, den die Modernen durchmachen müssen, ehe sie als Bürger im Rechtsstaat leben können. Der Terror des reinen Gewissens ist eine Etappe im Curriculum, das zum modernen Staat führt: durch ihn erfährt der bloß abstrakte Freiheitsgeist erst, wie es um ihn selbst steht, da lernt er die Unentbehrlichkeit des Rechts einsehen. Dieses Stadiummuß durchlebt werden, weil die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staat sich erst im postterroristischen Stadium konsolidieren. Im Sinne des großen Lehrgangs gesprochen: Terror ist eine Episode im Vorabitur der Menschheit.
Poschardt: Reagieren Rechtsstaaten deshalb so energisch auf den Terror, weil sie darin das eigene Vorleben erkennen?
Sloterdijk: Vielleicht. Sie erkennen in ihm das, worauf sie verzichtet haben. Der aktuelle Terror ist aber im Grunde ganz romantisch. Er ist heldenkultisch angelegt und will durch begeisternde Gewaltschauspiele eine neue Gemeinschaft stiften.
Poschardt: Wie steht es aber mit Bin Laden? Die Al-Qaida-Kämpfer des 11. September waren wie er größenteils Saudis.
Sloterdijk: Bin Laden ist ein Aktivist des dritten Traums. Er stellt neben den amerikanischen Traum und den saudischen Traum einen islamistischen Traum.
Poschardt: Welchen Traum haben die Saudis?
Sloterdijk: Neben den Amerikanern mit ihrer Erfolgsreligion sind die herrschenden Saudi-Cliquen die größten Eskapisten unserer Zeit. Weil ihnen das Geld nie ausgeht, können sie in einer absoluten Traumwelt leben, in der es ihnen freigestellt ist, sich als Schlafwandler zwischen den Jahrhunderten zu bewegen. Sie flüchten aus der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück. Einmal sind sie im 7. Jahrhundert und reiten neben Mohammed durch die Wüste, den Kopf voller Pläne, dann sind sie im 18. und 19. Jahrhundert und kokettieren mit der wahabistischen Askese, danach tauchen sie ins 21. Jahrhundert ein und berauschen sich an den Gütern der liberalen Welt. Man kann sich auf unabsehbare Zeit dieses Arabo-Disney-Lebensgefühl leisten und sich in einer total virtuellen Realität einrichten.
Poschardt: Bin Laden hat mit diesen Disney-Arabern
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