Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Prämissen ist die Bush-Regierung angetreten und hat dem System schon dadurch schweren moralischen Schaden zugefügt. Und so ging es weiter.
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[ 14 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Sven Gächter erschien unter dem Titel »Es gibt lediglich Dividuen« in der Weltwoche (14. Juli 2004).
Sven Gächter ist Chefredakteur des österreichischen Nachrichtenmagazins Profil .
Verwirrte geben Verwirrung weiter
Im Gespräch mit Matthias Matussek [ 15 ]
Matussek: Herr Sloterdijk, der Schlußessay Ihres neuen Buchs, mit dem Sie Ihr dreibändiges Hauptwerk Sphären abschließen, provoziert mit der These, unsere Gesellschaft befinde sich »jenseits der Not«. Fürchten Sie angesichts der neuen Armutsdiskussion nicht, dafür Prügel zu beziehen?
Sloterdijk: Allenfalls von seiten übereifriger Verbandssprecher. In Wahrheit mache ich dem Publikum einen therapeutischen Vorschlag: Laßt uns die Mechanismen untersuchen, derentwegen eine der materiell und mental reichsten Nationen aller Zeiten einer permanenten verdrießlichen Selbstagitation zum Opfer fällt. Nutzen wir die Verwöhnungspause, die mit der aktuellen Rezession kommt, für eine Untersuchung über Bewußtseinsverzerrungen in der entlasteten Zivilisation.
Matussek: Zur Zeit geben sich viele Intellektuelle als Wirtschaftsfachleute und debattieren über Wohlstandssicherung und Renditen. Halten Sie diesen Primat des Ökonomischen für falsch?
Sloterdijk: Sich um Materielles zu kümmern ist nicht unter dem Niveau menschenwürdiger Sorgen. Wir leben in einem politökonomischen System, das mit einiger Plausibilität ein Wohlstandsversprechen an vier Fünftel der Bevölkerung abgibt.
Matussek: Was es nie zuvor in der menschlichen Geschichte gab.
Sloterdijk: Die aktuelle Verwöhnkultur betrifft nicht mehr eine winzige Adelsgruppe, sondern den größten Teil der Population. Anthropologisch gesehen ist das eine Weltneuheit. Zu deren Betriebsgeheimnissen scheint aber zu gehören, daß von dem beispiellosen kollektiven Luxus nicht gesprochen wird. Statt dessen müssen ständig neue Mangelfiktionen publiziert werden. Im übrigen war Mangelalarm bisher eine Sache von Intellektuellen, doch jetzt haben die Verbandsfunktionäre diesen den Rang abgelaufen.
Matussek: Systemkritik äußert sich trotz der aktuellen Demonstrationen neuerdings meist von oben nach unten – viele Unternehmer, die mit Volk, Gesellschaft und Politikern nicht einverstanden sind, sitzen in der Talk-Show von Sabine Christiansen und jammern.
Sloterdijk: Das Mediensystem – auch darüber finden Sie in Sphären III Auskünfte – beutet in der Komfortsphäre den Unterhaltungswert des Jammerns aus.
Matussek: Sie selbst haben einst mit Ihren Büchern oder einem Essayvortrag über das Klonen die Feuilletons auf die Palme gebracht und spielen heute den Moderator der ZDF -Sendung »Das philosophische Quartett«, als »Nationalmoderator«, wie Sie mal gesagt haben. Wo sehen Sie Ihre Rolle in der gegenwärtigen Diskussion?
Sloterdijk: Zwei Jahrzehnte lang stand ich auf ziemlich verlorenem Posten, seit ich in meinem ersten Buch gesagt habe, daß Aufklärung über Aufheiterung läuft. Man wollte mich als den Narren hinstellen, der den Ernst der Lage nicht erkennt. Inzwischen haben viele eingesehen, daß man bei allem mit den atmosphärischen Tatsachen beginnen muß. Einseitiger Negativismus ist auf die Dauer nicht lebbar. In diesem Punkt wäre ein wenig Emissionsschutz für das intellektuelle Klima nützlich.
Matussek: Der Philosoph als Fachmann fürs Positive?
Sloterdijk: Solange der Medienbetrieb vom Gejammere und Meta-Gejammere lebt, besteht keine Gefahr, das Positive könnte mächtig werden.
Matussek: Kritiker sind vom Wesen her Schlechtmacher, das ist Teil ihrer Profession.
Sloterdijk: Man darf aber nie vergessen, daß die deutsche Kritik eine Spätform des deutschen Idealismus darstellt. Nach diesem gehört die Seele zur Basis, die Wirtschaft hingegen zum Überbau. Folgerichtig sieht man sich hierzulande von edlen Schlechtmachern umzingelt, die davon überzeugt sind, daß man sich an die lahmende Basis wenden muß. Man macht schlecht, weil man einer von den Guten ist. Ein deutscher Kritiker sein heißt: aus dem Stand eine Mahnpredigt halten können.
Matussek: Finden Sie es nicht beunruhigend, daß der Wirtschaftsriese Deutschland stolpert und die europäischen Nachbarn mit einer Mischung aus Sorge und Schadenfreude zuschauen?
Sloterdijk: Eher bin ich beruhigt, daß man uns jetzt mit ganz
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