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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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bisher gezeigt werden.
    Gächter: Wenn man den Medien die Funktion eines Kontroll-, also in gewisser Weise auch Immunsystems zugesteht, dann haben sie vor kurzem ganz ausgezeichnet funktioniert. Die flächendeckend veröffentlichten Folterfotos aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis von Bagdad lösten, mehr als alle Bilder vom Balkankrieg, aus Ruanda oder von diversen Selbstmordanschlägen, weltweit beispiellose Verstörung aus. Warum? Weil man den Amerikanern »so etwas« nie zugetraut hätte?
    Sloterdijk: Die Amerikaner haben seit dem ersten Golfkrieg die Regeln der Kriegsführung insofern verändert, als sie damit begannen, die Bilder vom Krieg zu manipulieren. Was man früher theatrum belli nannte, wird heute mit einem mentalen Feld identifiziert: Alle Feldherren im Zeitalter der amerikanischen Kriege gehen von der Erkenntnis aus, daß es immer zwei Kriege gibt in einem, zwei Schlachtfelder, die einander überlagern, wobei das Schlachtfeld der Bilder eine immer größere Rolle spielt. Die amerikanischen Bilderfeldherren sind angehalten, alles wegzuräumen, was in der Öffentlichkeit der Moral der amerikanischen Truppen oder dem Ansehen der USA schaden könnte.
    Gächter: Dieses Kalkül ist ja nun im Fall der Folterbilder aus Bagdad spektakulär gescheitert. Außerdem handelte es sich nicht um Kriegs-, sondern um Nachkriegsbilder.
    Sloterdijk: Ja, aber der Bilderschauplatz, das theatrum belli des Imaginären, läßt sich vom materiellen Kriegsgeschehen nicht mehr sauber trennen. Der Bilderkrieg ist mittlerweile der eigentliche, der immerwährende Krieg. Realpolitik muß heute im Bereich der Ideen, der Phantasie gestaltet werden. Deshalb sind die bisher streng getrennt arbeitenden Fraktionen von Pentagon und Hollywood durch die Ereignisse in der Zeit der Bush-Administration näher aneinandergerückt. Die Folterbilder wiederum waren gewissermaßen die Rache des Autorenfilms an diesem Pentagon/Hollywood-Komplex: eine naive, amateurhafte Produktion, die ihren eigenen Gesetzen folgt – und ihrem eigenen Gewissen. Die Folter, traditionell eher ein Bezirk der Diskretion unter Ausschluß der Öffentlichkeit, ist nun ihrerseits in das Zeitalter der Bilder eingetreten – »Sex, Folter und Video«.
    Gächter: Bemerkenswert dabei ist auch, daß die Foltererselbst nun Teil der Inszenierung sind, allen voran Shootingstar Lynndie England, die gnadenlose US -Reservistin.
    Sloterdijk: Genau. Lynndie England, eine wilde Schwester von Monica Lewinsky sozusagen, ist wie ein Amateur-Pornostar über Nacht zu Weltruhm gelangt. Das heißt, egal, ob man mit dem Präsidenten oder mit dem Feind schäkert, man hat unter den gegenwärtigen medialen Bedingungen ein ähnlich gutes Shootingstar-Potential.
    Gächter: Urheber, Komplizen oder Opfer des Bilderkrieges?
    Sloterdijk: Die Berichterstattung aus erster Hand tritt immer weiter in den Hintergrund gegenüber der Berichterstattung über Berichterstattung. Nach der modernen Logik der Medialität vermag erst eine bereits erfolgte Berichterstattung zu dokumentieren, daß überhaupt etwas stattgefunden hat, worauf noch einmal einzugehen sich lohnt. So gesehen, nähert sich die mediale Welt in ihrer Funktion mehr und mehr der Börse an, wo bekanntlich Papiere, die schon hoch im Kurs sind, besonders gern gehandelt werden. Dasselbe gilt für Bilder, vor allem für Schreckensbilder: Haben sie bereits gute Notierungen, werden sie tendenziell weiter notiert. Ich habe in meiner Bilderbetrachter-Lebensgeschichte wenige Fotos von so hohem ästhetischem Gestaltungswillen und einem so makabren Sinn für die Amateurästhetik des Horrors gesehen wie jene aus Abu Ghraib.
    Gächter: Das Foto vom irakischen Häftling mit der schwarzen Dreiecksmütze auf dem Kopf, der schwarzen Kutte und den verkabelten Händen hat wohl jetzt schon einen Stammplatz in einer Ikonographie der Grausamkeit. Warum aber, glauben Sie, war die Wirkung gerade dieser Folterbilder eine so verheerende?
    Sloterdijk: Die Welt hat möglicherweise auf diese Bilder gewartet. Wer nicht vollständig in einer Autohypnose der Solidarisierung mit den Amerikanern versunken war, hat schon relativ früh wahrgenommen, daß es mit den Motiven, die für denIrakkrieg vorgeschoben wurden, eine eigentümliche Bewandtnis hatte. Man ahnte, daß der Krieg ein Konstrukt war, entworfen nach einer bestimmten Handlungslogik, deren Anfänge in die Zeit vor dem Amtsantritt – »Machtergreifung« hätte ich fast gesagt – von George W. Bush zurückreichen. Die

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