Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Weltöffentlichkeit weiß, daß wir uns im Moment mit einem Zerrbild von Amerika auseinanderzusetzen haben. In dieses Szenarium fügt sich auch die Wirkungsgeschichte der Folterbilder: Sie bestätigten dieses teils dumpfe, teils artikulierte Vorwissen darüber, daß in diesem Krieg ein großer Betrug abgewickelt worden ist.
Gächter: In knapp zweieinhalb Jahren hat es die Bush-Administration geschafft, einen beispiellosen atmosphärischen Flurschaden anzurichten. Sehen Sie darin eher eine flüchtige Episode oder eine historische Zäsur, insofern, als dieser Schaden auf lange Sicht nicht reparabel sein wird?
Sloterdijk: Die Amerikaner sind heute in der Position, in der sich die Europäer im hohen Mittelalter befanden: in der Position des korrupten Kreuzfahrers. Die Kreuzzugsidee war im 12. und 13. Jahrhundert eine der motivationsmächtigsten Ideen überhaupt. Sie entlud sich in einer Reihe von blutigen Kriegen, die letztlich zwar wenig erfolgreich waren, aber immerhin dazu führten, daß Jerusalem zeitweilig in die Hände der Christen fiel. Den Europäern war dadurch die Genugtuung beschieden, sich als Befreier und Besitzer der »wichtigsten Stelle der Welt« – des Heiligen Grabes – zu fühlen. Das Grab des Herrn war der »ground zero« des Mittelalters. Hegel hat übrigens den geheimen Kerngedanken des europäischen, religiös aufgeklärten Geistes in die Kreuzzugsenttäuschung datiert: Der Geist, der sich des Absoluten zu bemächtigen versuchte, steht vor dem leeren Grab und erkennt, daß wirklich nichts darin ist und Gott also nicht länger in der Form der Äußerlichkeit, der Dinglichkeit gesucht werden darf. Damit erst wird jener Weg frei, der von den Verinnerlichungen der Mystik über die Reformation schließlich in die moderne Subjektphilosophieführt. Nach Hegel ist die Jerusalem-Enttäuschung für das Wesen des Westens konstitutiv.
Gächter: Und Sie meinen, bis zu den Amerikanern hat sich das noch nicht herumgesprochen, weil sie die von den Europäern längst abgelegte Kreuzzugsidee reanimieren und ihre »Jerusalem-Enttäuschung« noch vor sich haben?
Sloterdijk: Wir haben es mit einem Halunkenkreuzzug zu tun, der möglicherweise ältere Erfahrungen im kollektiven Gedächtnis Europas zum Klingen bringt. Aber man muß nicht ins historische Unterbewußtsein hinabsteigen – allein die aktuelle Faktenlage spricht für sich: Hier wird mit einer Heilsrhetorik, die Motive des Alten und des Neuen Testaments kombiniert, eine äußerst schäbige und, was vielleicht noch schlimmer ist, eine zutiefst dilettantische Form von sogenannter Weltpolitik gerechtfertigt.
Gächter: Dilettantismus ist wohl das Vernichtendste, was man Realpolitikern vom Schlage eines Donald Rumsfeld nachsagen kann.
Sloterdijk: Der Begriff der Realpolitik wurde im späten 19. Jahrhundert eingeführt, um den Professionalismus im politischen Handwerk zu verankern …
Gächter: … Sie spielen auf Bismarck an …
Sloterdijk: … der sich von seinen Beratern in jeder kritischen Situation erst einmal etwa zwölf Alternativen vorlegen ließ, die er eingehend studierte, um schließlich die geeignetste zu wählen. Realpolitik nach Bismarck bedeutet, sich aus Gründen, die in der Natur der Sache liegen, von den Imperativen des gesunden moralischen Menschenverstandes zu emanzipieren. Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz und ihren neokonservativen Think-Tanks dagegen ist es gelungen, den Professionalismus ganz in den Dienst des Dilettantismus zu stellen. Aus den Bereichen Militärtechnologie, Medienmanipulation, Administration, Rechtsprechung klauben sie alles zusammen, was dazu beiträgt, ihre grundsätzlich dilettantische Ausgangsposition mit einem Firnis von Gekonntheit auszustatten.
Gächter: Woher aber rührt dieser prinzipielle Dilettantismus? Im landläufigen Sinne dumm sind diese Menschen ja nicht. Nicht einmal George W. Bush kann so dumm sein, wie er gern dargestellt wird.
Sloterdijk: Der Kern des Dilettantismus ist das Gefühl der Auserwähltheit: daß man nicht deshalb auf der Bühne steht, weil man etwas kann, sondern weil man eine Vision zu haben glaubt, die zu allem berechtigt. Die Vision ist die Arbeitshypothese des Auserwählten. Das erscheint im Fall der USA um so absurder, als die Bush-Administration nicht um ihrer Visionen willen an die Macht gekommen ist, sondern durch einen mehr oder weniger durchschaubaren, also seinerseits dilettantischen Wahlbetrug. Unter diesen demokratisch höchst zwiespältigen, in Wahrheit unmöglichen
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