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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Beispiel ist längst nicht wiederhergestellt und eine Stadt, die aus Baustellen, Unkrautnarben, Brachen besteht, was die Lokalpolitiker auch noch als tolle Chance verkaufen.
    Sloterdijk: Es ist immer verheerend, wenn sich Politiker wie Galeristen äußern. Im Sonderbiotop Berlin hat man ein halbes Jahrhundert lang geübt, die Einkesselung als Attraktion zu erleben. Nach der Öffnung kam dann, neben all den neuenRepräsentationsbauten, der permanente Wettbewerb um die Gedenkstätten hinzu, die auch die historische Erinnerung repräsentativ machen sollten.
    Matussek: Reue, made in Germany.
    Sloterdijk: Deutsche Reue war ein Markenartikel auf den Moralmärkten der Welt. Inzwischen ist er nur noch wenig gefragt.
    Matussek: Sichtbar wird vielmehr ein neues deutsches Selbstbewußtsein, zumindest in der Außenpolitik, die sich sogar den Widerstand gegen den amerikanischen Messianismus erlaubt hat.
    Sloterdijk: Ich habe mir eine Menge Feindschaften eingehandelt, als ich vor Ausbruch des Irakkriegs davon sprach, daß Schröder mit seinem Votum gegen die amerikanisch-britische Politik die Stimme des freien und vernünftigen Europa vertrat – gegen die Opportunisten im Süden, im Osten und im Bundestag.
    Matussek: Liegt da die neue deutsche Rolle, vielleicht sogar eine deutsche Identität: Europa voranzutreiben als eine Art Selbstabschaffung im europäischen Projekt?
    Sloterdijk: Europas Nationalstaaten, Deutschland inbegriffen, müssen sich nicht selbst liquidieren. Sie sollen sich aber an ihr großes und gemeinsames Drehbuch erinnern: Hier ist das antimiserabilistische Programm zu Hause, nach dem die Menschheit im ganzen, oder doch ein großer Teil von ihr, in eine weltweite Komfortgemeinschaft einbezogen werden soll. Hinter den Menschenrechten, wohlgemerkt, stehen ja immer die Komfortrechte, die man zu Unrecht bloß als »materielle Interessen« bezeichnet.
    Matussek: Ist das nicht eine ziemlich harte Demystifikation der hehren Menschenrechte?
    Sloterdijk: Keineswegs. Menschenrechte beginnen als Rechte auf einen Anwalt; sie schützen zunächst jene, die noch nicht für sich selber reden können. Kann man erst für sich selber sprechen, erhebt man sofort materielle Forderungen. Diese Sequenzist unvermeidlich. Unvorstellbar wäre eine Menschheit, die bis unter die Haarwurzeln voller Menschenrechte steckt, aber bettelarm bliebe. Wer Menschenrechte sagt und meint, bejaht auch die Tendenz, den Zugang zum Wohlstandsraum zu öffnen.
    Matussek: Also weist der neue Bundespräsident den richtigen Weg, wenn er ruft: »Die Nation braucht Mut zur Veränderung«?
    Sloterdijk: Er stimmt die richtige Erkennungsmelodie an. Allerdings haben auch die schönsten Mut-und-Ruck-Reden einen prinzipiellen Baufehler. Wenn unser neuer Präsident ein gutes Verhältnis zum Mut hat, dann muß er was Mutiges tun. Vielleicht jemanden begnadigen, bei dem man es nicht erwartet, oder ein verfemtes Land besuchen. Mut nur zu fordern wäre wieder zu deutsch.
    Matussek: Was könnte ein Bundespräsident in diesem Sinne tun?
    Sloterdijk: Er muß die eingeschlagene Linie einhalten. Es ist de facto so, daß Menschen im Wohlstandsraum nur die Veränderungen hinnehmen, die ihnen die Gewißheit geben, daß die Dinge alles in allem bleiben, wie sie waren. Komfortsysteme werden über Tautologien gesteuert. Wenn zum Beispiel Günter Netzer nach einem schlechten Fußballspiel sagt: »Wir haben ein schlechtes Spiel gesehen«, dann geht ein Leuchten durch das Land, weil alle dasselbe gesehen haben. Wahrscheinlich sagt er »ein bedenklich schlechtes Spiel«, um seinen intellektuellen Rang zu verteidigen.
    Matussek: Er sagt, was alle hören wollen.
    Sloterdijk: Er sagt, was jeder gesehen hat. Er hat zur Zeit das höchste informelle Staatsamt inne – das des Chef-Tautologen. Nur der kann ein schlechtes Spiel ex cathedra ein wirklich schlechtes Spiel nennen. Zur Zeit ist das höchste Amt geteilt, die eine Hälfte besetzt Günter Netzer, die andere der Bundespräsident. Letzterer hat das Vorrecht zu sagen, daß wir es dennoch schaffen können.
    Matussek: Herr Sloterdijk, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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    [ 15 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Matthias Matussek erschien unter dem Titel »Verwirrte geben Verwirrung weiter« im Nachrichtenmagazin Der Spiegel (35/2004, S. 122-125).
Matthias Matussek ist Spiegel -Journalist und Buchautor.

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