Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Mitverantwortung für die Schwächeren.
Poschardt: Compassionate Conservative – ein Erfolgsmodell der Republikaner in den USA .
Sloterdijk: Der europäische Weg wird ein anderer sein, weil wir die politische Ausbeutung religiöser Gefühle nicht schätzen. Aber lassen Sie mich noch ein Wort zur Lage der Ausbeutung sagen: die »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«, um an die Formel des Grafen Saint-Simon zu erinnern, ist weitgehend verschoben worden auf die Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Wir leben in einer Situation, wo auch der Ärmste glaubt, er habe Anrechte auf einen Anteil dieser neuen Naturausbeutung. Wenn Sie vorhin von der warmen Bude gesprochen haben, paßt das perfekt zu dieser Tendenz. Erhöhte Zimmertemperaturen sind heute fast immer ein Diebstahl an der Natur, genauer an der alten Erdgeschichte. Man vergißt zu leicht, daß die fossilen Energieträger, dieser wirkliche genius benignus unserer Zeit, mehr für die Verwandlung der Lebensbedingungen der Menschen in den letzten zweihundert Jahren geleistet haben als sämtliche Kulturfaktoren zusammengenommen. Man muß sich auf diesen provokanten Satz einlassen, um zu begreifen, wie sehr die meisten Menschen heute von unfinanzierten Vorstellungen leben. Man sagt Kultur und weiß nicht, von wo es kommt.
Poschardt: Das Problem der Wurzel. Wer ist heute konservativ, wer progressiv: die Gewerkschaften oder die bürgerlichen Parteien? Oder sind die Begriffe unnütz geworden?
Sloterdijk: Die Gewerkschaften sind ohne Zweifel der heiße Kern des heutigen Konservatismus – neben denen sind Parteien wie die CSU reine Sowjets. Aber ohne Konservative gibt es keinen Kulturerfolg.
Poschardt: Und die CDU ?
Sloterdijk: Die hat wie jede große Partei beide Elemente in sich, bewahrende und vorantreibende. Die ältere Sozialdemokratie war ja auch so ein wunderbares konservatives Institut, bevölkert von Errungenschaftskonservativen. Hingegen drückt die Schröder-Linie der neuen SPD aus, wie die aktuellen innerparteilichen Lernprozesse ablaufen. Allgemein läßt sich sagen, Unruhe geht immer vom Lernen aus, und lernen kann und muß man nur, wenn man an der Macht ist. Die Malaise der SPD kommt daher, daß es in ihr ein paar Leute gibt, die tatsächlich regieren wollen. Hätte die Partei solche Figuren nicht,könnte sie sich mit einer gemütlichen illusionären Opposition zufriedengeben und sich das Lernen für die Welt von heute ersparen. Wie gesagt, man lernt nur, wenn man das sichere Reservat der Unverantwortlichkeit verlassen hat.
Poschardt: Im Osten Europas meldet sich der Freiheitswille, in den Moscheen der Fundamentalismus. Lernen wir von den Ukrainern, was wir sein sollten, und von den Islamisten in Deutschland, was wir nicht sein sollten?
Sloterdijk: Da werden zwei Grenzen spürbar, keine geopolitischen, sondern mentalitätspolitische Grenzen. Die eine wird durch Haß und Ressentiment gezogen, beides in heftigen, fast unheilbaren Formen, die andere durch Idealisierung und die Erwartung einer Rettung. Zwei der stärksten Affekte, zu denen Menschen fähig sind, arbeiten jetzt an den Grenzen Europas. Die Europäer hätten allen Grund, das als eine ungeheure Chance zu begreifen. Man muß sich angesichts dieser Tatsachen die wirkliche Lage Europas vergegenwärtigen. Die führenden Nationen Europas sind ausnahmslos die Nachfolgegebilde von gedemütigten Imperien. Sieht man sich Mentalitätsgeschichte des letzten halben Jahrhunderts an, so erkennt man überall die Übergangspathologien der ausgeschalteten Weltmächte. Doch diese Phänomene haben ihre Zeit gehabt, und deshalb entsteht jetzt eine neue europäische Affirmation. In dieser Lage müssen wir den europäischen Mythos wieder so erzählen, daß die Hörer dieser Geschichte begreifen, es handelt sich um etwas Großartiges, an dem teilzuhaben uns mit Stolz erfüllt. Das setzt voraus, daß wir unseren schönsten Mythos von den Amerikanern zurückfordern, die ihn mit über den Ozean genommen haben.
Poschardt: Welchen Mythos?
Sloterdijk: Die Geschichte vom Flüchtling Aeneas, wie Vergil sie erzählt. Wer sie hört, versteht sofort, wo Europa liegt: Europa, das ist ein Ort auf der Karte der Hoffnung, wo besiegte Menschen eine zweite Chance finden. Was vormals den Elan des amerikanischen Eskapismus ausgemacht hat, muß jetztzum Kern des europäische Bewußtseins werden. Die Story beginnt, unvermeidlich, mit dem Brand von Troja, aus dem Aeneas, der Verlierer aller Verlierer, flieht, den Vater auf dem
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