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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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In Deutschland passieren merkwürdige Dinge: Leute arbeiten schwarz und schimpfen, daß es keine Arbeitsplätze gibt. Sie jammern über den Verfall der Innenstädte und kaufen im Center vor der Stadt. Sie schimpfen über die abgewanderten Arbeitsplätze und sparen beim Shoppen in Polen. Kriegen viele Deutsche ihr eigenes Handeln und dessen Konsequenzen nicht mehr zusammen?
    Sloterdijk: Die meisten Menschen sind nicht besonders stark beim Erfassen von Wenn-Dann-Beziehungen, ich würde das nicht national einschränken. Bei uns kommt die infantilisierende Gesamttendenz des Sozialklimas hinzu. Das Paradigma für die radikale Trennung von Eigenverhalten und Folgenbewußtsein liefert die Drogensubkultur, und mit dieser hat ja die offene Konsumgesellschaft mehr gemeinsam, als sie weiß. Der Drogenkonsument hat gelernt, die Konsequenzen seiner Sucht wegzudenken, physisch wie moralisch. Sein eigener Ruin geht ihn nichts an: Seht ihr doch zu, wie ihr mit meiner Selbstzerstörung fertig werdet! Mit »ihr« ist dieses fabelhafte irreale Kollektiv der anderen gemeint, die an allem schuld und für alles zuständig sind. Dieses Kollektiv beinhaltet eben die sogenannte »Gesellschaft«, die größte aller Nebeladressen. Sie eignet sich sehr gut als imaginärer Empfänger für solche unadressierbaren Delegationen. Ich denke tatsächlich, daß unser geliebtes Heimatland zu einem Gutteil aus Delegationskünstlern besteht. Man delegiert seine schlechte Laune an die Konjunktur; man delegiert sein eigenes Konsumverhalten an das Veröden der Innenstädte.
    Poschardt: Was kann die Politik da machen? Ist nicht gerade sie der größte Motor dieser Infantilisierung?
    Sloterdijk: Sozialpolitik ist ein Unternehmen zur Ausschaltung des Ernstfalls. Sie soll und muß versprechen, daß niemand untergeht, und sorgt so für die Verhinderung der totalen Mangelerfahrung. Das ist sehr human und richtig, hat aber eine Nebenfolge, nämlich die progressive Irrealisierung. Im irrealen Klima erreichen die Vordersätze ihre Folgesätze nicht mehr, logische und praktische Zusammenhänge werden beliebig. 2 × 2 ist nur in armen Ländern gleich 4.
    Poschardt: Und kann die Politik da wieder Mathematikunterricht betreiben?
    Sloterdijk: Nein, das kann sie nicht. Dies würde bedeuten, die Mathematik über das Menschenrecht auf Komfort zu stellen. Die Logik der Härte steht der Politik nicht zu Gebot. Der Staat kann nicht einmal seinen Haushalt ausgleichen, weil der irreale Imperativ stärker ist als die Finanzraison. Der deutsche Staat hatte es nach 1945 leichter, als er noch eine arme Bevölkerung antraf, der man die Grundbegriffe der Härte nicht erst beibringen mußte. Er fand in ihnen ein kongeniales Material und konnte ihre Grundhärte für seine Projekte aufgreifen. Nach fünfzig Jahren Intensivkurs in Konsum ist das undenkbar. Der heutige Staat könnte eine etwas härtere Mentalität bei den Bürgern durchaus brauchen, entweder im Sinne von Belastbarkeit für Sparmaßnahmen oder im Sinne von neuunternehmerischer Durchsetzungskraft. Beides kann er aus eigener Kraft nicht herstellen, solange seine Klientel einer völlig anderen Dynamik folgt. Folglich ist er dazu verurteilt, ein Klima wohltemperierter Irrealität aufrechtzuerhalten. Die Stimmung ähnelt jener in einer halbwegs wohlhabenden Familie, die ihren Kindern die Gewißheit gibt, daß sie, egal wie sie sich verhalten, aus dem Familiennetz nicht herausfallen. Mittelstandskinder sind heute in der Regel so gefedert, daß sie tun können, was sie wollen, ohne ernsthafte Deklassierungsängste haben zu müssen. Von den noch stärker entlasteten Nachkommen der neuen Oberschichten sprechen wir erst gar nicht. Der aktuelle Staat ist also in einer sehr schwierigen Situation, weil er das, was er früher durfte, mit seinen Angehörigen heute einfach nicht mehr anstellen kann. Vor allem kann er nichts befehlen – und er darf nicht als Konditionstrainer auftreten. Normalerweise hat der Staat Trainereigenschaften in dem Sinne, daß er vorgibt, für welche Art von Wettkämpfen, für welche Art von Belastungen die verschiedenen Volksgruppen trainiert werden müssen und an welchen Spielstätten sie zum Einsatz kommen. Heute kann der Staat seinen Bürgern durch den Mund des Präsidenten nur gut zureden, mehr zu tun, für sich selbst, aus sich selbst. Das ähnelt fatal dem bekannten double bind-Befehl: Verdammt noch mal, sei doch endlich spontan! Die aktuelle Politik erinnert an die Strategie der Krankenkassen in den 70er

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