Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Aussteiger, sozusagen der harte Kern der Toskana-Fraktion, oder die, die gleich in Kreta geblieben sind oder von ihrem Spanien-Urlaub nicht mehr heimkamen, sich hüten, in solche Themen einzugreifen. Nur einige bekannte Interventionisten, die zwischen dem dolce vita und der heimischen Misere pendeln, lassen sich hin und wieder aus Italien einfliegen, um in Deutschland mahnend ihre Stimme zu erheben. Früher sprach man von einer »jeunesse dorée«, heute ließe sich von einer »critique dorée« sprechen, einer goldenen Kritik, geäußert von den Verbandssprechern der Wohlversorgten.
PANTEL: Wenn die Wirklichkeit so ganz anders aussieht, als gemeinhin angenommen wird, also viel weniger wirklicher Mangel herrscht als die meisten meinen – und Sie schreiben ja, daß das »Hauptereignis des 20. Jahrhunderts im Ausbruch der affluent society aus den Realitätsdefinitionen der Armutsontologie« bestanden habe –, wieso findet dieses Hauptereignis so wenig Beachtung?
Sloterdijk: Weil der Betrachtungspunkt, von dem aus man sieht, was wirklich geschehen ist und weiter geschieht, gar nicht so leicht zu finden ist. Man erreicht ihn wahrscheinlich nur durch ein psychisches Training, mit dem man sich von der Daueragitation des Mangels und seiner Interpreten distanziert. Früher fuhr man vielleicht für ein Jahr nach Indien oder in andere Teile der Welt, wo man echte Mangelsituationen beobachten kann. Es gibt im übrigen zur Zeit sehr aktive Gruppen in Europa, die versuchen, eine spezifisch europäische Verantwortung für Afrika zu artikulieren. Das halte ich für sinnvoll, unter anderem deswegen, weil die Maßstäbe bei uns selbst sich erst wieder herstellen, wenn man den echten Kontrast begreift. Das kollektive Gefühl des Maßstabsverlustes ist für Deutschland besonders typisch. Hier herrscht ein alles durchdringendes Klima des falschen Selbstlobs und der falschen Klage, wobei die beiden Systeme mühelos ineinandergreifen: »Eigentlich haben wir gar nicht so schlecht, und doch sind die Umstände unvergleichlich furchtbar.«
PANTEL: Aber gerade jetzt hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung einen »Armutsbericht« veröffentlicht. Danach lebt jeder achte Deutsche unterhalb der Armutsgrenze, definiert als »weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens«. Im Vergleich zu vielen Menschen in Indien oder Afrika geht's denen natürlich trotzdem gut, sie brauchen keinen Hunger zu leiden – aber in Relation zur Mehrheit in Deutschland geht's ihnen eher schlecht. Also: Armut und Mangel kann man ganz unterschiedlich definieren.
Sloterdijk: Sicher, und die Relativität dieser Definition ist genau das, was wir in unseren Sprachstilen systematisch unsichtbar machen. Wie gesagt, werden wir üblicherweise erst durch die Begegnung mit der absoluten Armut wieder an den eigenen Wohlstand erinnert. Ich meine aber: Wir müssen versuchen, auch innerhalb des Systems den Maßstab wiederzufinden,und zwar an der Stelle, wo wir selber leben. Wir können nicht alle auffordern, Aussteiger zu werden, nur um den externen Blick auf die eigene Welt zu bekommen. Wir können nicht von jedem Menschen verlangen, daß er seine Lebensumstände so betrachtet, als käme er vom Mars. Menschen sind nun einmal immer schon eingebettet in ihre eigenen Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten und nehmen das Naturrecht auf Naivität für sich in Anspruch. Aber auch unter diesen Bedingungen läßt sich ein Ansatzpunkt für die Entwicklung eines angemessenen Lagebewußtseins gewinnen – denn Dasein heißt unweigerlich immer auch Sich-Vergleichen. Wir sind dank der modernen Medien allesamt zu Komparatisten des Glücks und des Unglücks geworden. Die existenzielle Komparatistik ist inzwischen unsere erste Natur. Tendenziell geht es bei homo sapiens immer so zu, daß er ein Auge auf die Glücklicheren und ein Auge auf die Unglücklicheren wirft und dann versucht, die Mitte einzunehmen – es sei denn, man hat einen Grund, sich für eine Ausnahme zu halten und eine Lizenz zu besitzen, glücklicher-als-andere zu werden, oder man hat einen Grund, sich mit den Unglücklicheren intensiver zu verbünden, als man es üblicherweise tut, beispielsweise wenn man einer Erlösungsreligion anhängt, in der die Figur des Samariters verinnerlicht wird, oder wenn man sich zu einer sozialistischen Solidaritätsreligion bekennt. Im Katholizismus des 20. Jahrhunderts, in der Bewegung des Arbeiterpriestertums, hat man etwas Derartiges beobachtet: Junge Männer aus gutem
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