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Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)

Titel: Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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was seit Napoleon in Europa geschehen ist. Vor allem charakterisiert er die französische Weltpolitik in der offensiven Phase nach der Revolution von 1789. Der von Napoleon verkörperte demokratische Messianismus der Franzosen ist mit dem der Amerikaner von heute durchaus vergleichbar, und seine Konsequenzen geben zu denken. Die letzten Trümmer dieser Politik konnten erst 150 Jahre nach Napoleons Tod entsorgt werden.
    Poschardt: Nennen Sie ein Beispiel.
    Sloterdijk: Nehmen Sie die Fälle Spaniens und Deutschlands, beides Objekte des napoleonischen Nation building. In Spanien reichen die Folgen bis zum Tode von Franco 1975. Napoleon stand 1808 mit einem Heer von dreihunderttausend Mann vor Madrid, natürlich als Befreier und Verkünder der Menschenrechte. Mit einem Schlag konnten die unglücklichen Spanier an den Errungenschaften der Französischen Revolution teilhaben, Abschaffung der Adelsprivilegien, Ende der Volksausbeutung durch einen parasitären Klerus. Da fiel von seiten der Eroberer kein falsches Wort. Was passiert? Die geknechteten Bauern Spaniens, die Ärmsten der Armen, rotten sich zusammen und picken sich aus der Armee der Befreier junge Männer heraus und massakrieren sie voller Haß – ein Vorgang, an den man jedesmal erinnert, wenn man »Guerilla« sagt. Spanien braucht danach fast 170 Jahre, um einen eigenen Weg zur Demokratie zu finden. In Deutschland verliefen die Dinge nicht viel besser, denn durch den antifranzösischen Affekt kam es dazu, daß sich die Ideen der deutschen Nationalbewegung von den Ideen der Aufklärung abspalteten – mit Folgen, die man 1945 besichtigen konnte. Kurzum, die Europäer wissen oder sollten wissen, was man von Importbefreiungen und Importdemokratien zu halten hat. Man bekommt bestenfalls demokratisch kaschierte Diktaturen mit marktwirtschaftlichem Unterbau.
    Poschardt: Das klingt so, als gelte dies auch für uns.
    Sloterdijk: Das Wilhelmische Reich war wohl von ferne ein solches Gebilde. Die BRD hingegen hatte Glück und steuerte am Affekt gegen den Befreier vorbei. Aber das ist eine historische Singularität, die von den aktuellen Propagandisten des Nation building zu Unrecht als Modell angeboten wird. Vom deutschen Fall kann man gar nichts ableiten. Die Welt im 21. Jahrhundert wird aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem globalen autoritären Kapitalismus mutieren. Mit dem war on terror und der Dschihad-Romantik der Islamisten ist der Kriegskapitalismus schon zum Greifen nahe. Die Umstände sind so, daß man bald mehr Nicht-Demokratie wagen wird.
    Poschardt: Ist es da Aufgabe der Intellektuellen die Demokratie an ihre eigenen Wurzeln zu erinnern?
    Sloterdijk: Im Grunde schon, aber die Intellektuellen wissen ja selber nicht mehr so genau, wo die Wurzeln liegen.
    Poschardt: Das führt zur Frage: wer sind wir Deutschen? Uns ist Gemütlichkeit wichtiger als Freiheit. Lieber warm in einer kleinen Bude hausen als frierend in riesigen Räumen. Wir sind wie Oblomow – der russische Held des 19. Jahrhunderts, der sein Leben nur mehr auf dem Sofa verbringt.
    Sloterdijk: Die russische Assoziation führt zur Sache selbst, meine ich, denn die modernen Deutschen sind in Wahrheit viel russischer, als sie selber wissen. Wir ähneln dem romantischen Klischeerussen aus der Literatur des 19. Jahrhunderts. Wahrscheinlich ist der während des Kalten Krieges dank einer Art Seelenwanderung in uns hineingeschlüpft. Der Unterschied ist nur, daß die Deutschen auf ganz andere Weise bequem sind als die östlichen Vettern. Sie verweigern sich den Abgründen, ihre Gemütlichkeit bleibt mit Arbeit kompatibel. Die deutsche Leistungsbereitschaft ist eine verläßliche Konstante, solange ein starker Imperativ dazukommt. Denn Deutsche wollen nicht freiwillig Hand anlegen. Sie wollen müssen.
    Poschardt: Sie müssen erst mal auf dem harten Boden der Notwendigkeit aufschlagen.
    Sloterdijk: Wenn dieser Boden zu ihnen gesprochen hat, sind sie zu allem fähig.
    Poschardt: Wo sind wir? Sind wir aufgeschlagen oder geht es noch weiter runter?
    Sloterdijk: Ich meine, die landeseigenen Erfolgsmaschinen sind zu gut im Schuß, als daß wir viel weiter abfallen könnten. Die deutsche Exportwirtschaft, die deutsche Wissenschaft, das deutsche Rechtssystem, das deutsche Sozialwesen, das alles gründet in positiven Routinen, die auch laufen, wenn die einzelnen bunkern.
    Poschardt: Und das Freiheitliche?
    Sloterdijk: Die meisten Freiheitsziele sind inzwischen unpolitisch oder postpolitisch definiert.
    Poschardt:

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