Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Rücken und die Penaten im Gepäck, um in Italien einen zweiten Lebensversuch zu unternehmen – man kennt die weitere Geschichte. Ich denke, man muß diesen nicht-imperialen Anfangsteil der Aeneis als Gründungsmythos des aktuellen Europas stark machen und endlich aufhören, diese sinnlosen lasziven Geschichten von dem Stier und dem Mädchen zu wiederholen. Unsere Leit-Erzählung sagt ganz klar, Europa ist ein Land, wo besiegte Menschen wieder auf die Beine kommen. Die Story haben die Amerikaner uns mit genialer Instinktsicherheit entführt, und die Europäer werden, ob sie wollen oder nicht, sich diesen Mythos zurückholen müssen. Andernfalls werden sie zu muffigen Kollektiv-Nationalisten und können das Problem der zahllosen Neu-Bürger nicht lösen, ohne die sie nicht überleben werden. Wir suchen eine neue Formel für europäische Gastfreundschaft und Integration, und Vergil hat sie im voraus geliefert.
Poschardt: Wenn wir den Amerikanern ihren Mythos nehmen, was passiert dann mit ihnen?
Sloterdijk: Die Amerikaner setzen ihren Traum selber aufs Spiel, ohne daß die Europäer ihnen etwas wegnehmen müßten. Man hat den Eindruck, sie sind psychopolitisch ins Stocken geraten und scheinen wehrlos gegen den Geist der Rache, der sie ergriffen hat. Sie kommen über die Tatsache nicht hinweg, daß man sie nicht so liebt, wie sie es verdient zu haben meinen. Aus dieser narzißtischen Empfindlichkeit kann nichts Gutes kommen. Die Europäer mögen lethargisch sein, sie haben doch enorme Potentiale, vor allem die singuläre Verbindung aus Freiheitskultur und Savoir-vivre , das ist etwas, was es in diesen Farben nur in der Alten Welt gibt. Europa ist eine große Matrix der Lebenskunst. Ich komme gerade aus Korea zurück, sehr beeindruckt von dieser Nation, die quasi das deutsche Wirtschaftswunder der 60er/70er Jahre auf dem technologischen Stand vonheute durchmacht, ein Land im Leistungsrausch. Man bemerkt da, daß es in Ostasien einen kollektivistischen Kapitalismus gibt, gegen den sich unser stark individualisierte Lebensstil enorm abhebt. Da wird man an sein Europäertum erinnert. Ich dachte mir, man muß für jede Minute dankbar sein, die man in diesem Weltteil leben darf. Es sei denn, daß unsere Modernisierer mit ihrem unseligen Ökonomismus der Kultur und Bildung den Garaus machen – die Gefahrensymptome sind deutlich.
Poschardt: Ist mit der Freiheit die Dankbarkeit verlorengegangen? Das Gefühl, daß man sich glücklich schätzen darf?
Sloterdijk: »Sich glücklich schätzen« – ist das nicht überhaupt eine der schönsten Formulierungen der deutschen Sprache? Ich vermute, Sie sind der erste, der sie seit Jahren mal wieder in einem sinnvollen Zusammenhang verwendet. Ein phantastisch beziehungsreicher Ausdruck, sehr undeutsch im Grunde. Bestes Deutsch zur Kennzeichnung eines ganz undeutschen Gefühls.
Poschardt: Man weicht vor dem Glück zurück, das ist schon eine deutsche Bewegung, wie ich finde.
Sloterdijk: Ich frage mich, ob das nicht schon zur Gesamtstimmung in der westlichen Kultur gehört. Überall werden Trainings angeboten, das eigene Leben im Licht erlittener Benachteiligungen zu präsentieren. Man glaubt, daß man mehr Eindruck macht, wenn man sich als Opfer eines Anschlags darstellt. Man füllt ständig unsichtbare Formulare auf Entschädigung aus und reicht sie bei einer Behörde im Nebel ein. Ich denke, das ist es, was es mit dem bekannten Jammern der Deutschen auf sich hat. Aber auch wenn das deutsche Feuilleton das Jammern aufgegriffen hat, trifft das Wort die Sache nicht richtig, denn »Jammer« ist eigentlich eine musikalische Kategorie oder eine biblische, sofern man an Jeremias, den Klagepropheten, denkt. Wovon wir jetzt sprechen, hat mit dem musikalischen Modus des Lamento nichts zu tun. Unser Jammern ist in Wahrheit das Ausfüllen von Misere-Formularen. Wenn mandie unterschreibt und stempelt, kann man sicher sein, man kriegt was dafür von irgendwoher.
Poschardt: Dann wäre es mehr ein Bestellen, während das Lamento de facto sich selbst genügt.
Sloterdijk: Bei Shakespeare heißt es irgendwo: Wer würde preisen, wenn er nicht verkaufen wollte? Analog sollte es heißen: Wer würde jammern, wenn er nicht bestellen könnte?
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[ 16 ] Dieses Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und Ulf Poschardt erschien unter dem Titel »Deutsche wollen müssen« in der Welt am Sonntag (12. Dezember 2004).
Ulf Poschardt ist Journalist und Buchautor.
Komparatisten des Glücks
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