Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Manfred Keuler und Paul Pantel [ 17 ]
PANTEL: Herr Sloterdijk, wir haben zum Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit, Armut und Wohlstand Interviews geführt mit Wirtschafts- und Sozialexperten, Zukunftsforschern und Literaten, mit Peter Glotz zum Beispiel, Alexander Kluge und Hans-Olaf Henkel – alle eher unabhängige Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Interviewpartner kommen nicht unmittelbar zusammen, sondern erst über ihre Aussagen in den Köpfen der Leserinnen und Leser, die jetzt idealerweise das Gespräch fortführen. Zum Abschluß der Gesprächsreihe würden wir das Thema gern aus philosophischer Sicht betrachtet wissen. An Sie hatten wir da gedacht, weil wir in Ihrem neuesten Buch Sphären III . Schäume im Kapitel »Auftrieb und Verwöhnung. Eine Kritik der reinen Laune« spannende Zusammenhänge mit unseren Fragestellungen sehen.
Sloterdijk: Ein Art »Kolloquium der Abwesenden« also. Nun, wo Sie die Namen nennen: Glotz hat ja nie aufgehört, die Grundfrage der Linken nach der Herstellung des sozialen Zusammenhangs durch Arbeit und nach der Teilung und Umverteilung ihrer Ergebnisse zu stellen. Und auch Kluge ist nie müde geworden, nach der List der Vernunft in ihren mehr oder weniger mikroskopischen Formen zu fragen. Nicht nach der ganz großen göttlichen Vernunft, sondern nach der List der kleinen Leute und ihrer Lebensstrategien, wobei er den marxistischen Begriff der Basis außerordentlich anreichert, insofern als der ganze soziale Untergrund mit einem Male wimmelt von listenreichen Odysseus-Figuren. Hier kommt auch die Geschlechterfrage ins Spiel, denn die List ist nicht nur grammatikalisch weiblich. Was Henkel angeht, sehe ich ihn seit langem als eine ziemlich scharfkantige Figur, deren Position durch einen gewissen Anarchismus geprägt ist, denn Henkel geht vom Unternehmer aus und nicht vom Bourgeois. Unser Problem in der Bundesrepublik ist im übrigen ja die Rückkehr des Bourgeois, des Rentiers, des unproduktiven Fressers als Massenerscheinung, ein Phänomen, das übrigens auch in der Form des kleinen Sparers und Börsenspielers allgegenwärtig geworden ist. Man muß diese Klasse der unpolitischen Goldsucher ernst nehmen: Das sind all diejenigen, die der ökonomischen Utopie der Moderne huldigen und sich von einem gefährlichen und unwiderstehlichen Märchenmotiv beherrschen lassen, dem Traum vom leistungslosen Einkommen. Das wäre ein Thema, über das ich gern mal mit Alexander Kluge ein Gespräch führen würde: Inwiefern die sogenannte Gesellschaft ein märchenerzählendes Kollektiv darstellt, dessen zentrales Wirtschaftsmärchen der Fortunatus-Traum vom Gratiseinkommen ist, das dir feenhaft durch die Fortuna persönlich ausgehändigt wird bzw. deren moderne Nachfolgerin, die Lottofee. Durch solche Glücksrenten soll der lange Weg vom Wunsch zum Erfolg und zur großen Freiheit mit magischen Methoden abgekürzt werden: »Ich erwachte eines Morgens und war reich!«
PANTEL: Aber dieses Motiv wird doch fast ausschließlich in der Boulevard-Presse gepflegt – in Wahrheit sind wir meilenweit davon entfernt!
Sloterdijk: Im Gegenteil! Auf der Traumebene – und Träume sind etwas sehr Reales – waren wir noch nie so sehr im Griff solcher Märchenmotive wie jetzt. Das Kollektiv (oder wie mandie sogenante Gesellschaft sonst nennen will) als solches leidet im Moment an der thematischen Oberfläche natürlich unter all den Erfahrungen, die mit der Herstellung der Empfindung von Knappheit zu tun haben. Man darf aber keinen Augenblick lang vergessen: Knappheit ist ein interpretiertes Gefühl. Daß wir heute in der reichsten Gesellschaft aller Zeiten leben und von dem Gefühl der Knappheit so tyrannisiert werden wie kaum eine soziale Gruppe je zuvor, das ist ein Sachverhalt, der viel zu selten untersucht wird. Die heute herrschenden Mangelgefühle sind hergestellte, halluzinierte und redigierte Mangelgefühle, erzeugt in einer Art sozialdemokratisch-neokonservativen Fabrik der Knappheitsträume. Die Hauptagenturen in diesem »Armuts-Hollywood« sind die Medien, die Gewerkschaften, die Unternehmerverbände, die Krankenkassenbonzen und die Kulturschaffenden, also all diejenigen, die mit der Hervorrufung und Interpretation der kollektiven Reichtums- und Armutsgefühle befasst sind. Sie alle sind zur Stunde dabei, uns mit einem neuen Genre von Armutsfilmen zu agitieren. Nahezu alle Zeitgenossen, ob sie publizieren oder nicht, fahren in diesem Mangeltheorie-Karussell mit, während die realen
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