Ausgewählte Übertreibungen: Gespräche und Interviews 1993-2012 (German Edition)
Jahren, als man am Stadtrand in den Wäldern Trimm-dich-Pfade anlegte: damit die wenigen Gesundheitsbewegten das Allgemeine entlasten, indem sie sich selber fit halten.
Poschardt: Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft hat fatale Konsequenzen: die Leistungseliten müssen immer mehr arbeiten und werden dafür verhöhnt. Die Schere von Arm und Reich geht auf: und soll mit Umverteilung geschlossen werden. Man glaubt offenbar, daß jede Ausdifferenzierung dieser Art immer Ergebnis von Unrecht sei.
Sloterdijk: Man sollte vielleicht ab und zu Luhmanns Schriften zur Hand nehmen, etwa den bedeutenden Aufsatz Am Anfang war kein Unrecht . Aber was heute geschieht, geht über Fragen der Rechtsgefühle hinaus. Man meint, eine psychologischeDesintegration zu spüren, die tiefer reicht als eine gewöhnliche Klassenspaltung. Das hat auch damit zu tun, daß Leistungsträger mit einer 60-80-Stunden-Woche an den Wirklichkeitsdeutungen der weniger Beschäftigten kaum noch teilnehmen können.
Poschardt: Aber woher kommt der Haß auf die Eliten?
Sloterdijk: Um das zu verstehen, hilft, neben der zeitlosen Psychologie des Ressentiments, eine Erinnerung an die historische Semantik. Manchmal ist Wortgeschichte schon große Politik. Am Beginn des modernen Elitehasses steht der anti-aristokratische Affekt bei den plebejischen Schichten der Französischen Revolution. Bürger und Plebejer begriffen damals zunächst gemeinsam, daß es mit der herkömmlichen Behandlung des Volkes durch eine parasitäre Aristokratie und einen ebensolchen Klerus nicht mehr weitergehen konnte. 1789 wurde mit dieser Einschätzung ernst gemacht. Seither benutzte man in Europa bis 1917, örtlich sogar bis 1968, das Wort Ausbeutung, wann immer es darum ging, sehr ungleiche Einkommensverhältnisse zu interpretieren. Für die Zeit vor 1789 war der Ausdruck eindeutig: Es gab tatsächlich einen Adel und sein klerikales Pendant, die sich das Mehrprodukt der französischen Nation aneigneten, um in aller Demut ihr Herrenleben zu führen, jenseits eigener Leistung – und darüber hinaus einen hyperparasitären Hof, der die Ungeschicklichkeit beging, seine Verschwendung vor dem Volk auszustellen. In einer solchen Situation entstehen – vorsichtig gesagt – Unverträglichkeiten, und eben diese wurden von der bürgerlichen Moral adäquat beschrieben. Proletarier und Bürger bezeichneten sich in diesem Regime ganz folgerichtig als die Ausgebeuteten und die alten Herrschaften als Ausbeuter. Als dann die Bürger und Proletarier sich nach der Revolution entmischten, ging der Ausbeutertitel auf die Unternehmer über, und darin steckte, neben einem Element an Wahrheit, auch eine Fehlbezeichnung mit fatalen Fernwirkungen. Nun sind 200 Jahre vergangen, und man hat immer noch nicht wirklich nachvollzogen, daß mit dem Reichen, der selber arbeitet, und oft mehr als alle übrigen, eine völlig neue Figur auf die Bühne der Weltgeschichte getreten ist. Dieser Typus hat seinen Platz im kollektiven Wissen und im Sprachschatz der Gegenwartskultur immer noch nicht gefunden. Vielleicht liegt das daran, daß es Gottes letzter Gedanke war. Er ist so unwahrscheinlich, daß man ihn auch bei gutem Willen nur zögernd versteht. Wohlhabend sein und dafür auch noch selber das meiste tun: Das erscheint vielen, wenn nicht der Mehrheit, immer noch völlig abwegig. Dennoch ist es ein quantitativ und qualitativ eindrucksvolles Phänomen, ohne die working rich gäbe es keinen modernen Wohlfahrtsstaat. Die ominösen Besserverdienenden, die kaum mehr als 10% der Population ausmachen, erbringen mehr als 50% des nationalen Steueraufkommens.
Poschardt: Es bleibt ein Tabu, die Eigenverantwortung des sozial Schwachen zu thematisieren.
Sloterdijk: Ich glaube nicht an Tabus, aber an peinliche Themen. Das peinlichste Thema lautet, daß es eine große Zahl von Ärmeren gibt, die durchaus nicht ausgebeutet werden, Menschen, denen niemand je etwas weggenommen hat, die aber aus ihren Chancen wenig zu machen wußten – vor allem wohl deswegen, weil sie keine Anreize sahen, um über ihre Lage hinauszugehen. Natürlich gibt es viele Menschen in unverschuldeter Not, denen man selbstverständlich hilft und helfen muß. Angesichts der aktuellen Tatsachen ist aber auch auf dem linken Flügel eine veränderte Sicht zu formulieren, die nicht mehr vom Ausbeutungsvorwurf und einer entsprechenden Klassensolidarität ausgehen kann, sondern zurückzugehen hätte auf scheinbar altmodische Begriffen wie Mitgefühl und
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