Ausgeweidet (German Edition)
geben, aber dennoch ihren Freiraum braucht. Auf der Bühne ist sie sehr präsent, privat hingegen eher schüchtern, scheu. Die letzten Jahre sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen, sodass ihr Nervenkostüm nicht das Beste ist.«
»Wie zeigt sich das?«, fragt Maria.
»Es gibt Situationen, da kann sie sehr schnell ihr inneres Gleichgewicht verlieren, eine Kleinigkeit kann sie dann zutiefst treffen.«
»Wie reagiert sie dann?«
»Aufgebracht oder den Tränen nahe.«
»Würden Sie ihr unüberlegte Handlungen zutrauen?« Die Frage kommt wieder von Clemens.
»Wie meinen Sie das?«
»Dass sie Dinge machen könnte, die sie nachher bereut.«
»Ja, schon, aber nicht so, wie Sie das vielleicht meinen. Sie kann einem schon mal den Hörer aufknallen oder eine Tür zuschlagen, mehr aber nicht. Und sie beruhigt sich auch schnell wieder.«
»Hört sich ein bisschen theatralisch an.« Maria schaut den Arzt mit unbewegtem Gesicht an.
»Nun ja, was erwarten Sie? Frau Hartmann ist Künstlerin, und außerdem ist sie eine Frau.« Maria runzelt die Stirn, doch die Fröhlichkeit des Arztes, der über seine Bemerkung lacht, ist ansteckend. Bevor sie sich davon ablenken lassen, schiebt Clemens schon die nächste Frage nach.
»Kennen Sie den Ex-Mann von Frau Hartmann?«
»Nein. Er ist mir nie begegnet. Und da Frau Hartmann auch keinen Kontakt mehr zu ihm hatte, ist mir das erspart geblieben.«
»Wie ist Ihr Verhältnis zur Tochter von Frau Hartmann?«, hakt Maria nach.
»Ich habe relativ wenig Kontakt zu Marie.«
»Noch eine letzte Frage: Wo waren Sie am Freitag zwischen sechzehn und zwanzig Uhr?« Maria beobachtet Lamberty aufmerksam.
»Nach Dienstschluss um sechzehn Uhr habe ich mich in mein Zimmer zurückgezogen, um einen Vortrag auszuarbeiten, bis ungefähr neunzehn Uhr dreißig. Anschließend bin ich nach Hause gefahren, um mir einen gemütlichen Abend zu machen. Hatte keine Lust mehr auf den Liederabend von Frau Hartmann, dazu war die Woche zu hektisch, zumal ich Samstag Bereitschaft hatte und heute wieder normalen Dienst.«
»Kann das jemand bezeugen?«, fragt Maria.
»Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich ziemlich zügig vorangekommen bin. Spricht eigentlich dafür, dass mich niemand gestört hat, was nun wirklich selten ist.« Er überlegt noch einen Augenblick.
»Der Pförtner müsste mich eigentlich gesehen haben, als ich die Klinik verlassen habe. Und nun müssen Sie mich entschuldigen, ich muss zur Visite.«
»Wenn wir weitere Fragen haben, melden wir uns.«
Und schon eilt Dr. Lamberty mit wehendem Kittel von dannen. Maria schaut sich nach der Oberschwester um, weil sie wissen möchte, wann das Personal der Station befragt werden kann. »Etwa in einer Stunde«, lautet die Antwort.
»Dann lass uns drüben im Brauhaus Zum Piefedeckel etwas essen, mir knurrt der Magen«, schlägt Maria vor. »Das Essen ist da bestimmt besser als in der Cafeteria, und wir können in Ruhe die weitere Vorgehensweise besprechen.« Clemens nickt zustimmend und merkt erst jetzt, wie hungrig er ist.
Auf dem Weg nach draußen treffen sie auf den Pförtner, der ihnen bestätigt, dass Dr. Lamberty gegen halb acht am Abend das Haus verlassen habe. Nach kurzer Überlegung fügt er hinzu, er habe am Nachmittag, vielleicht so gegen halb fünf, Dr. Lamberty auf dem Parkplatz gesehen. Normalerweise sei es zwar nicht üblich, einen anderen Weg als bei ihm an der Loge vorbei zu nehmen, aber man könne auch durch die Küche oder durch die Schleuse für Liegendkranke den Parkplatz erreichen.
Kurz darauf machen es sich die beiden im Piefedeckel gemütlich. Clemens isst zwar nicht gerne Hausmannskost, aber Maria liebt es herzhaft. Denn sie kommt aus einer alteingesessenen Bauernfamilie aus Kappes Hamm, und da wird deftig gekocht. Diesmal gibt es nur Suppe, denn der Tag ist noch lang, für Clemens eine Kartoffelcremesuppe mit Lachsstreifen und für Maria eine hausgemachte Gulaschsuppe. Das durch den Beruf bedingte unregelmäßige Essen, meist spät am Abend, hilft ihm nicht, schlank zu bleiben. Als er noch Zeit für Sport hatte, gab es kein Gramm zu viel, doch allmählich bildet sich ein kleiner Rettungsring. Maria, die für ihre spitze Zunge bekannt ist, hat schnell erkannt, das lieber nicht zum Thema zu machen.
Erst nach dem leckeren Essen, zu dem sich Maria ein Bier gönnt, besprechen sie die Aussage des Pförtners. Maria fasst ihre Überlegungen zusammen: »Da bleibt uns nichts anderes übrig, als das Stationspersonal etwas
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