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Ausgeweidet (German Edition)

Ausgeweidet (German Edition)

Titel: Ausgeweidet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Lamberts , Annette Reiter
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geöffnet hat, dreht er sich nochmals zu Alexander um, winkt ihm zu und verschwindet im Taxi. Schon seit Jahren ist er seinem Grundsatz treu, nie selbst zu fahren, auch wenn er nur ein Glas Alkohol getrunken hat.

12.
    Montag früher Morgen Hafen. Die Stille wird durch Hühnergegacker gestört, dann ertönt eine krächzende Stimme, die ›Guten Morgen‹ wünscht. Clemens ist sofort wach und greift nach dem zweiten Wecker, um den weniger freundlichen Weckton rechtzeitig zu unterbinden. Obwohl er nur drei Stunden Schlaf bekommen hat, fühlt er sich erstaunlich frisch. Die Entscheidung, in aller Frühe die Akten des Gerichts durchzusehen und nicht noch gestern Nacht, war richtig. Er zieht sich ein dickes Sweatshirt und eine Jogginghose über und macht sich einen starken Kaffee. Mit der Tasse setzt er sich an seinen antiken Sekretär, der direkt vor dem großen Fenster seines Appartements steht. Draußen ist es noch dunkel, nur die Beleuchtung rund um den Innenhafen spendet etwas Licht, sodass Clemens die Silhouetten der gegenüberliegenden Häuser wahrnehmen kann.
    Im Dunkeln sehen die Gehry-Bauten ja ganz witzig aus, trotzdem ärgert er sich darüber, wie schnell die Gebäude – zumindest das weiß verputzte und das mit der Aluminium-Fassade – unansehnlich geworden sind, im Gegensatz zu dem in Backstein ausgeführten Bau, dem die Witterung nichts anzuhaben scheint. Er schlägt die Gerichtsakten auf und beginnt konzentriert zu lesen.
    Über die Persönlichkeit von Jacques Briest erfährt der Hauptkommissar wenig. Der Musiker muss sehr von sich überzeugt gewesen sein, obwohl keines seiner Engagements verlängert wurde. Als der Vertrag in Köln auslief, wo er als Erster Geiger angestellt war – hier hat er auch Senta Hartmann kennengelernt, die am Kölner Opernhaus als Sängerin engagiert war –, ging er an das Wiesbadener Opernhaus. Auch dort konnte er sich nicht länger als die vereinbarte Zeit halten und landete dann als Korrepetitor an den Wuppertaler Bühnen. »Vom Ersten Geiger zum Korrepetitor, eine rückwärtsgerichtete Karriere«, rutscht es Clemens heraus. Das war auch der Zeitpunkt, an dem Senta Hartmann erstmals Verletzungen bei ihrer Tochter bemerkte.
    Nachdem Clemens den Großteil der Vernehmungsprotokolle gelesen hat, macht er sich einen zweiten Kaffee und blickt gedankenversunken aus dem Fenster. ›Kein Wunder, dass bei Senta Hartmann die Nerven blank liegen. Wirkliche Hilfe hat sie nicht bekommen, nur Anfeindungen. Und dass die Heimleitung Jahre später ohne ihre Zustimmung dem Vater auch noch eigenmächtig unbetreuten Umgang gewährt hat, obwohl der Verdacht des Missbrauchs im Raum stand, ist kaum zu glauben.‹ Er schüttelt den Kopf. Besonders mitgenommen hat ihn die Schilderung von Senta Hartmann, wie Marie sich als Kind verhalten hat, wie sie sich die Wimpern ausriss, mit dem Kopf gegen die Wand lief oder sich weigerte, auf die Toilette zu gehen.
    Clemens geht zurück zum Sekretär und liest nochmals die Aussage der Mutter über das Einkoten.
    »Ich habe das alles nicht verstanden. Missbrauch kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Eher hatte ich den Verdacht, dass Jacques einfach zu ungeduldig mit Marie war. Auch Maries Ausspruch: ›Du tust der Marie nicht weh, du bist eine ganz liebe Toilette‹, konnte ich mir nicht erklären. Erst die Psychologen der Kinderschutzambulanz haben mir so manches erläutert. Dass beispielsweise die Weigerung von Marie, auf eine Toilette zu gehen und lieber in die Windeln zu machen, eine typische Übersprungsangst sei. Missbrauchte Kinder entwickeln Ängste, die sie wiederum auf Situationen und Dinge übertragen, die in keinem logischen Zusammenhang zum Missbrauch stehen. Das kann ganz vielfältig sein, und bei Marie war es unter anderem die Toilette.«
    Clemens blättert einige Seiten vor zu den Protokollen über die Vernehmung von Sieglinde Frank, einer Schulfreundin von Senta Hartmann, die nach ihrer Gesellenprüfung als Köchin einige Zeit als Kindermädchen bei den Briests angestellt war. Sie hatte als Erste Auffälligkeiten bei Marie bemerkt, zum Beispiel den verzückten Blick des Kindes, wenn sie gewickelt wurde. Richtig stutzig wurde sie aber erst, als sie beobachtete, wie Marie beim Spielen ihre Puppen im Genitalbereich leckte.
    Auf dem Weg zum Polizeipräsidium schaut er wie fast jeden Morgen im Büdchen auf der Hammerstraße vorbei, wie in Düsseldorf und Köln die Kioske genannt werden. Hier bekommt man alles, was zum Überleben notwendig ist, wenn

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