Ausgeweidet (German Edition)
schraubt sich langsam senkrecht in die Höhe und entfacht einen so gewaltigen Luftsog, dass selbst die Polizisten in sicherer Entfernung noch Mühe haben, sich dagegen zu stemmen. Wie eine riesige Libelle verweilt der Helikopter auf einer Stelle. Die Lichtkegel der Scheinwerfer fallen auf die Suchmannschaft. Dann kippt er leicht zur Seite und überfliegt in einem großen Bogen das festgelegte Gebiet.
Die Truppe in ihren einheitlich grünen Einsatzanzügen mit dem reflektierenden Schriftzug »Polizei« auf dem Rücken kommt nur stockend voran. »Langsam, langsam«, rufen immer wieder die jeweiligen Zugführer. Sie wissen aus Erfahrung, dass die kleinste Unaufmerksamkeit später Stunden kosten kann. Vier Hundeführer mit ihren Labrador-Retrievern gehen voran, zwei weitere sichern die Flügel der Mannschaft ab. Das abzusuchende Gebiet umfasst knapp zwanzig Quadratkilometer Wald. Bedenkt man, dass Schneider ungefähr eine Stunde dort war, kann er höchstens zweieinhalb Kilometer hineingegangen sein.
Nach vier Stunden haben sie das abgesteckte Gebiet durchforstet, ohne einen Hinweis gefunden zu haben. Die Nebelschwaden haben sich längst verzogen. Die anfängliche Anspannung aller Beteiligten geht in eine erschöpfte Enttäuschung über. Auch wenn sie Profis sind und wissen, dass Geduld oberste Priorität hat, setzt ihnen die Erfolglosigkeit zu. Auch die Besatzung des Hubschraubers wird unruhig. Dreimal sind sie mittlerweile aufgestiegen und haben das Terrain abgeflogen. Immer wieder hat die Wärmebildkamera Wärmequellen geortet, auch solche, die der Größe nach auf einen Menschen hindeuten. Doch die Hoffnung wurde enttäuscht. Für die Ansammlung heller Punkte bei kalter Umgebungstemperatur war ausnahmslos Schalen- und Schwarzwild die Ursache.
»So, Leute, und jetzt das Ganze nochmals von hinten nach vorne«, feuert der Verantwortliche seine Truppe an.
Nicht nur die mentale und psychische Leistung jedes Einzelnen, auch die körperliche Belastung kostet Kraft. So langsam zu gehen, immer mit dem Blick auf den Boden, lässt den ganzen Körper verspannen und führt auch bei gut durchtrainierten Menschen zur Ermüdung. Nun sind es nicht einmal mehr hundertfünfzig Meter bis zum Parkplatz und immer noch nichts. Plötzlich werden die Hunde unruhig. Die Truppe bleibt abrupt stehen. Die Hundeführer lockern behutsam die Leinen. Doch keiner der Hunde fokussiert sich auf eine Stelle oder schlägt an. Nach wenigen Minuten setzt sich die Suchmannschaft erneut in Bewegung. Da stolpert Polizeiobermeister Frank Noll und schlägt der Länge nach hin. Schnell rappelt er sich auf. Ihm ist es peinlich, vor den Kollegen so unkonzentriert zu erscheinen. Doch er ist keineswegs über seine eigenen Füße gefallen. Rasch schiebt er das Laub zur Seite. Zwei Plastikrohre ragen aus dem Erdboden, eines vom Durchmesser kleiner als das andere. Er legt sein Ohr an das größere Rohr. Ein schwaches Stöhnen dringt nach oben.
Schon ist er umgeben von seinen Kollegen, die behutsam weiteres Laub und Erde um die Rohre abtragen. Nach wenigen Minuten haben sie eine Holzplatte freigelegt. Sie lässt sich mit bloßen Händen abheben. Die Polizisten blicken in das Innere einer Holzkiste. Vollkommen entkräftet, unterkühlt und am Rande der Bewusstlosigkeit liegt dort ein Mann. Sofort werden die Sanitäter verständigt. Sie heben ihn vorsichtig aus der Kiste und legen den Mann auf eine Trage. Der Notarzt kontrolliert die Vitalfunktionen und gibt erste Anweisungen. Mit schnellen Handgriffen wird eine Infusion vorbereitet. Der Arzt macht den Arm des Patienten frei und sucht eine geeignete Vene. Innerhalb von Sekunden hat er sie punktiert, die Kanüle eingeschoben und mit einem Fixierpflaster sicher befestigt. Dann schließt er die Infusion an, blickt sich kurz um, drückt einem Polizisten den Plastikbeutel mit der Infusionsflüssigkeit in die Hand.
»Gut hochhalten.«
Ein Rettungsassistent reicht ihm eine Spritze, deren Flüssigkeit er langsam in die zusätzliche Öffnung der Verweilkanüle entleert. Dann erhebt er sich, greift nach dem Infusionsbeutel, und das Team eilt zum Hubschrauber, der den Entkräfteten sofort in die Diakonie nach Kaiserswerth bringen wird.
Ein Teil der Einsatzbeamten steht fassungslos vor dem Waldgrab. Ein kaum zu ertragender Gestank nach Urin und Kot steigt ihnen in die Nase. Leere Wasserflaschen liegen in der Kiste, eine Wolldecke, ein halber Laib Brot; auf dem Boden der Kiste wimmelt es von kleinen Waldbewohnern.
Der größte
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