Ausgeweidet (German Edition)
als er, und doch lässt er sich zu so einer Äußerung hinreißen.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragt er behutsam nach.
»Zwei Missbrauchstäter, oder sagen wir, ein Pädophiler und einer, der zumindest von Schneider als Vergewaltiger verdächtigt wird«, antwortet Kreutz.
»Ja, da hast du recht, aber ich glaube, es ist noch zu früh. Wir brauchen mehr Zeit, auch wenn der Polizeipräsident den schnellen Erfolg liebt.«
Rainer Steinbeißer hat sich für das weitere Verhör von Michael Schneider für eines der Vernehmungszimmer entschieden, um so den Druck zu erhöhen. Im Gegensatz zu den Besprechungsräumen sind die Vernehmungszimmer klein, fast schon beengt, schallisoliert und spartanisch eingerichtet. Ein Tisch, ein Stuhl für den zu Vernehmenden, zwei Stühle für die Hauptkommissare und ein weiterer Stuhl für den Protokollanten. Ein Ort, abgeschirmt von der Außenwelt, der wenig Ablenkung bietet.
Clemens beginnt ganz locker, fragt erst einmal, wie es Schneider geht, lässt durchklingen, dass er Verständnis für dessen verzweifelte Situation hat. Er versucht, Vertrauen aufzubauen. Schneider soll sich und sein Motiv verstanden wissen. Doch er kann seinem Gegenüber keine Regung entlocken. Clemens bohrt weiter. Immer wieder versucht er die Situation, in der sich Schneider vor der Entführung befunden hat, aus unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren, um ihm so die Möglichkeit zu geben, den einen oder anderen Interpretationsansatz aufzunehmen und sich dazu zu äußern. Doch Schneider bleibt stumm. Schließlich lehnt sich der Hauptkommissar in seinem Stuhl zurück und signalisiert damit Steinbeißer, die Vernehmung zu übernehmen.
Steinbeißer probiert es mit Konfrontation. Er breitet die Beweise der Spurensicherung, die erdrückend sind, scheinbar emotionslos vor Schneider aus. Doch auch diese Strategie bringt keinerlei Reaktion. Nur Schneiders Augen verraten, dass er noch anwesend ist. Er trinkt nichts, verlangt nach keiner Zigarette, wischt sich nicht den Schweiß von der Stirn. Seine Hände liegen bewegungslos auf seinen Oberschenkeln. Clemens, der die Ratlosigkeit Steinbeißers spürt, entschließt sich zu einem weiteren Strategiewechsel. Er bittet, die wörtliche Protokollierung zu unterbrechen, und rutscht mit seinem Stuhl ganz nahe an Schneider heran.
»Sie kommen da nicht mehr raus.« Clemens’ angenehme tiefe Stimme wirkt auf einmal bedrohlich.
»Sie stehen im Verdacht, nicht nur die Entführung begangen zu haben.« Nach einer kurzen Pause, in der Clemens Schneider intensiv ansieht, fährt er ihn scharf an: »Reden Sie endlich, sonst können wir nichts mehr für Sie tun.« Nichts.
»Sie werden des versuchten Mordes«, Clemens’ Stimme verschärft sich, »und des heimtückischen Mordes verdächtigt.« Spätestens jetzt hätte er von Schneider eine Reaktion erwartet. Irgendetwas, ein Zucken, einen ungläubigen oder entsetzten Gesichtsausdruck, ein Aufbegehren oder zumindest eine Veränderung in der Körperhaltung. Schneider rührt sich nicht. Clemens schüttelt ungläubig den Kopf und verlässt gemeinsam mit Steinbeißer das Vernehmungszimmer.
Im Flur dreht er sich aufgebracht zu seinem Kollegen um.
»Das kann doch nicht wahr sein. So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Spätestens bei der Beschuldigung wegen Mordes hätte er doch reagieren müssen!« Er schaut auf seine Armbanduhr.
»Fünf Stunden Vernehmung, kein Wort, keine Geste, nichts.«
»Wir nehmen ihn uns morgen wieder vor.« Steinbeißer versucht, Optimismus zu verbreiten.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir morgen mehr Erfolg haben«, antwortet Clemens frustriert. »Wir sollten einen Polizeipsychologen hinzuziehen, das gefällt mir alles nicht.«
»Ja, sollten wir wohl. Mir ist das auch nicht ganz geheuer«, bestätigt Steinbeißer Clemens’ Einschätzung.
»Ich lasse die Nachtwache verstärken, nicht dass der uns noch Dummheiten macht.«
Als Clemens die langen Flure des Polizeipräsidiums durchquert, begegnet er niemandem mehr. Selbst das Büro von Hendrik Flemming liegt im Dunklen. ›Kein Wunder, es ist schon wieder nach zweiundzwanzig Uhr. Doch jetzt reicht es noch für ein kühles Bier.‹ Er zieht sich den Mantel über, löscht das Licht in seinem Büro und geht die große geschwungene Treppe hinunter zum Ausgang. Kaum steht er vor der Tür, weht ihm ein kalter Wind entgegen. Mit schnellen Schritten macht er sich zum Hafen auf und ist froh, in die angenehme Wärme von Roberts Bistro einzutauchen. In der Bar
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