Ausgeweidet (German Edition)
Zusatzausbildung als Fallanalytiker in Österreich bei einem anerkannten amerikanischen Profiler gemacht. Der Ansatz ist dabei ein ganz anderer. Sucht der ermittelnde Beamte die Spur, die vom Opfer zum Mörder führt, fragt sich der Profiler, warum das Opfer so zu Tode gekommen ist und nicht anders. Die Todesart als Schlüssel, um sich der Persönlichkeit des Mörders zu nähern. Diese Herangehensweise liegt Clemens eindeutig mehr. Schon im Grafenberger Wald war ihm klar, dass der Mörder etwas mitteilen will. Warum wurde Briest nicht einfach nur erschossen, sondern mühsam aufgebrochen? Der Mörder geht damit ein erhöhtes Risiko ein, gesehen zu werden. Und das ganze Unterfangen ist auch noch beschwerlich und aufwendig. Mit unbändiger Wut ist diese Inszenierung alleine nicht zu erklären.
Und was sagt die Entführung aus? Schneider hätte nur fester zuschlagen müssen, dann wäre es für Hausmann aus gewesen. Aber nein, er muss ein Loch buddeln. Ein großes Loch, damit eine Holzkiste hineinpasst, die auch noch einen Menschen aufnehmen muss. Und er nahm die Strapaze auf sich, die ausgehobene Erde wegzuschaffen. Er muss sie beseitigt haben, sonst hätte der Suchtrupp sich nicht so schwer getan. Und die Holzkiste, wo hat er die her? Die gibt es nicht einfach so im Baumarkt zu kaufen. Clemens streicht sich mit der Hand über die Stirn.
Vielleicht wollte Schneider Hausmann nur quälen und nicht umbringen, zugegeben eine dürftige Erklärung. Immerhin hat er den Tod von Hausmann billigend in Kauf genommen. Der hätte Atemnot bekommen können, einen Herzinfarkt oder was auch immer. Schneider hätte daran gehindert sein können, Hausmann mit Lebensmitteln oder Wasser zu versorgen. Wir hätten ihn nur eher festzusetzen brauchen. Und Schneider ist nicht dumm.
Auch der Aspekt, dass am Tatort im Grafenberger Wald alles getan wurde, um mögliche Spuren zu vermeiden, passt nicht zum Tatort Schwarzbachtal. Hier scheint es dem Täter egal gewesen zu sein, ob er Spuren hinterlässt. Okay, nicht ganz. Das Grab war gut versteckt. Aber den Wagen auf dem Parkplatz in unmittelbarer Nähe stehen zu lassen, war dumm. Und natürlich die vielen Spuren, die er hinterlassen hat. Überall haben sie seine Fingerabdrücke gefunden: an der Holzkiste, den Wasserflaschen und an den Belüftungsrohren.
Clemens ist fest davon überzeugt: Schneider hat nichts mit dem Mord im Grafenberger Wald zu tun. Oder er kennt sich mit der Psychologie von Straftätern bestens aus und hat das alles bei seinem Plan berücksichtigt. Sehr unwahrscheinlich, notiert Clemens in sein Notizbuch. Missbrauch scheint das Verbindungsglied zu sein. Bei dem Mord wird ein Mensch abgeschlachtet. Vielleicht will uns der Täter sagen, das Opfer ist ein Schwein gewesen und soll auch so zu Tode kommen. Bei der Entführung wird ein Mensch – Clemens sucht nach einem passenden Begriff – lebendig begraben. Was heißt das: lebendig begraben? Angst, Todesangst, und das nicht nur über Minuten, sondern über Stunden, Tage. Noch lebt man, ist aber schon unter der Erde, in einer ausweglosen Situation, aus der man sich selber nicht mehr befreien kann.
Wie war das bei der Tochter von Schneider? Missbrauchsopfer. Man kann sich nicht vorstellen, was sie durchgemacht hat. Welche Ängste und Nöte sie letztendlich in den Freitod getrieben haben. Ihr Leben muss sich nach der Vergewaltigung komplett verändert haben. Nichts war mehr so wie vorher. Viele Missbrauchsopfer sind nicht mehr in der Lage, einen normalen Alltag zu meistern. Permanente Angstzustände verhindern das. Clemens notiert sich die Begriffe: brutalste Demütigung, Beschmutzung, Schmerz, Todesangst.
Versunken starrt er auf seine Notizen. Ja, das könnte das Motiv gewesen sein. Genau das wollte der Entführer erreichen, der angebliche Peiniger seiner Tochter durchleidet Todesangst, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl schwerster Demütigung über einen längeren Zeitraum. ›Macht ausüben wäre da auch noch ein Stichwort‹, mutmaßt er. Der Vergewaltiger hat durch seine Tat Macht ausgeübt. Mehr Macht über einen Menschen kann man nur erreichen, wenn man ihn tötet. Die Macht des Täters und die Ohnmacht des Opfers lässt der Entführer den Entführten spüren. Schneider scheint davon überzeugt zu sein, dass es sich bei Hausmann um denjenigen handelt, der seine Tochter missbraucht hat. Wie hat sie sich eigentlich das Leben genommen? Schon wieder ein weißer Fleck.
Clemens brüht sich einen weiteren Kaffee auf. Im
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