Ausländer
wartete, dass der Mann zu sprechen anfing.
Er sprach laut, in kurzen, deutlichen Sätzen, zwischen denen er Pausen einlegte, damit Piotr übersetzen konnte.
»Mein Name ist Doktor Fischer … Ich muss euch etwas sehr Wichtiges sagen … Ihr seid als Kandidaten ausgewählt worden … für die Ehre, in die deutsche Volksgemeinschaft zurückgeholt zu werden … Ihr werdet weiteren Untersuchungen unterzogen werden … um euren Rassewert festzustellen … und ob ihr einer solchen Ehre würdig seid … Einige von euch werden scheitern und zu ihrem Volk zurückgeschickt werden.«
Er legte eine Pause ein und maß sie mit dem Blick eines strengen Schulmeisters.
»Diejenigen von euch, die als Volksdeutsche anerkannt werden – die deutschen Blutes sind –, wird man ins Vaterland bringen … und dort ein gutes deutsches Zuhause und gute deutsche Familien für sie finden.«
Piotr war ein bisschen aufgeregt, die anderen Jungen rissen jedoch bei den Worten des Mannes vor Entsetzen die Augen immer weiter auf. Niemand sagte etwas. Doktor Fischer machte auf dem Absatz kehrt und marschierte hinaus. Kaum war er draußen, brach ein Tumult los. Weinen mischte sich mit wütenden Schreien. Im Nu stand der Doktor wieder in der Tür und schlug mit seiner Reitgerte gegen den Rahmen. Hinter ihm bauten sich zwei Soldaten auf.
»Wie könnt ihr es wagen, so undankbar zu sein! Ihr werdet tun, was meine Leute von euch fordern!«, brüllte er, worauf der Lärm schlagartig verebbte. »Und ihr werdet nicht zu denjenigen gehören wollen, die zurückbleiben.«
Piotr schrie diese letzten Sätze auf Polnisch. Er war zu sehr darauf konzentriert, diesen Wortschwall zu übersetzen, um zu merken, dass ein Junge zornentbrannt auf ihn losging. Die Faust des Jungen traf ihn so hart an der Schläfe, dass Piotr zu Boden ging. »Verräter«, zischte er ihn an, während er von einem der Soldaten hinausgezerrt wurde.
Kapitel zwei
Piotr und die anderen Jungen wurden in einen luftigen, makellos sauberen Schlafsaal im selben Gebäude geführt. Man gab ihnen Handtuch und Seife, und sie durften in einem Raum mit einer Reihe Badewannen und großen Fenstern mit Milchglasscheiben ein heißes Bad nehmen. Inmitten dieses Wasserdampfs fühlte sich Piotr plötzlich wie in seinem eigenen Elend gefangen. Die Stelle am Kopf, wo ihn der Hieb getroffen hatte, pochte, und er spürte die Beule, aber wenigstens war die Haut nicht aufgeplatzt. War es richtig gewesen, sich freiwillig zum Übersetzen zu melden? Ja doch, die anderen Kinder mussten schließlich wissen, was der Doktor sagte, und das Polnisch der alten Krankenschwester reichte nicht aus, um es ihnen verständlich zu machen.
Wut machte sich in ihm breit. Er hatte sich nie ganz und gar »polnisch« gefühlt, und seine Eltern waren in Polen nie das Gefühl losgeworden, Außenseiter zu sein. Diese Deutschen mit ihrem groben Auftreten und ihren gelegentlichen furchtbaren Gewaltausbrüchen schüchterten ihn ein. Aber vielleicht hatten sie recht, ihn »zurückzuholen«. Das war bestimmt besser, als wieder in das schreckliche Waisenhaus gesteckt zu werden.
Piotrs Stimmung verschlechterte sich noch mehr, als zu seiner Beschämung die Krankenschwestern zurückkamen und ihm eine streng riechende chemische Lösung ins Haar massierten. »Das ist gegen Kopfläuse«, sagte die Ältere, als Piotr sie fragte. »Ihr aus dem Waisenhaus seid alle davon befallen.«
Nach dem Bad erhielten sie saubere Kleidung, warme Milch und Brot, danach durften sie auf den Betten im Schlafsaal ausruhen. Seine neue Hose war ihm zu kurz, aber zumindest roch sie nicht so schimmlig-muffig wie seine alten Sachen.
Auch Bücher und Zeitschriften lagen für sie bereit, die meisten allerdings in deutscher Sprache. Piotr las in der Wehrmachtszeitschrift Signal . Einige der Artikel handelten von den deutschen Soldaten in Frankreich und Holland, sie schilderten, wie die Landser in den Cafés auf der Champs-Elysées speisten oder mit einheimischen Mädchen tanzen gingen. Aber in den meisten wurden die Erfolge der Wehrmacht in Sowjetrussland hymnisch gefeiert. Einige der Jungen wollten wissen, was in den Artikeln stand. Inzwischen verübelten sie es ihm nicht mehr, dass er Deutsch konnte.
Zu Mittag wurden alle wieder zusammengerufen. In stockendem Polnisch verkündete die beleibte Krankenschwester, dass jeder weitere Angriff gegen Piotr hart bestraft würde. »Ich weiß, ihr Angst hattet …«, sagte sie. »Aber kein Junge, KEIN Junge darf schlagen
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