Ausländer
Manchmal, wenn er an seine leiblichen Eltern dachte und Charlotte merkte, dass er traurig aussah, kletterte sie auf seinen Schoß.
»Wenn ich traurig bin, rede ich mit Clara«, sagte sie und hielt ihre Porzellanpuppe hoch.
Dann musste Peter wieder lächeln. Wenn Charlotte nicht gerade Naziparolen nachplapperte, war sie wirklich reizend.
Die Nächte waren immer noch hart. Zwischen den frischen Leintüchern, die Frau Kaltenbach zweimal wöchentlich vom Hausmädchen wechseln ließ, wanderten Peters Gedanken oft zurück zu dem Bauernhof. Er versuchte nicht an jenen letzten, schrecklichen Morgen zu denken und an die immer stärkere Beklemmung, die er empfunden hatte, als er auf die Dämmerung gewartet hatte und schließlich zur Straße gegangen war.
Er sah dann vor sich, wie er die schwere Eingangstür des Hofes hinter sich schloss und durch den von seiner Mutter angelegten Küchengarten ging, in der Nase den frischen Geruchfeuchter Erde, während an den säuberlich in Reihen gepflanzten und von Stecken gestützten Himbeersträuchern noch der Tau glitzerte. An diesem Tag hätte er seiner Mutter beim Pflücken helfen dürfen. Das hatte er immer gemacht, seit er ein kleiner Junge war.
Er fragte sich, ob der Hof je wieder sein Eigen sein würde. Auch Kleinigkeiten ließen ihm keine Ruhe. Wie die Himbeeren. Waren sie einfach verdorrt oder von Vögeln gefressen worden? Oder hatten die deutschen Soldaten sie gepflückt? Und die Marmeladen und das eingelegte Gemüse seiner Mutter. Ganze Regale voll für den Winter, sorgfältig in alte Weckgläser gefüllt und luftdicht verschlossen, beschriftet und mit Datum versehen. Hatten die Soldaten die Sachen mitgenommen, oder würden sie einfach im Dunkeln vor sich hin schimmeln?
Woher hätte er, als er den Hof verließ, wissen sollen, dass er nicht zurückkehren würde? Der Küchenherd, der noch brannte. Sein behagliches, muffiges Bett mit den weichen, alten Decken. Das Buch Mit Feuer und Schwert von Henryk Sienkiewicz, aus dem seine Mutter ihm abends vorlas, aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch. Er hatte die Geschichte von Polens Kampf gegen das Russische Zarenreich gern angehört. Der Anfang war ihm noch lebendig in Erinnerung.
Das Jahr 1647 war reich an Omen. Seltsame Zeichen und Ankündigungen schrecklicher Katastrophen tauchten auf Erden und am Himmel auf. Im Frühling fielen Heuschreckenschwärme aus dem Wilden Feld über das Land her: ein untrügliches Zeichen für Überfälle der Tataren, womöglich sogar für einen richtigen Krieg. Kurze Zeit später erschien ein Komet am Firmament.
1 939 oder 1941 hatte es solche bösen Omen nicht gegeben, und doch war die Katastrophe, die Polen heimgesucht hatte, ungleich größer.
Am nächsten Tag nahm ihn Traudl mit in die Bezirksbücherei, damit er sich einen Ausweis ausstellen lassen konnte. Peter erkundigte sich nach Sienkiewiczs Buch. Als er der Bibliothekarin – einer mürrischen, blässlichen Dame mit einem emaillierten Parteiabzeichen an der Strickjacke – den Namen des Schriftstellers nannte, sah sie ihn verächtlich an. »Einen polnischen Autor?«, sagte sie höhnisch und so laut, dass alle Bibliotheksbesucher die Köpfe wandten. »Als Nächstes wirst du dann nach einem Juden fragen, was? Wie kommst du bloß auf den Gedanken, wir könnten Bücher von Polacken haben?«
Traudl sprang ihm augenblicklich bei. »Peter ist neu in Berlin, Frau Knopf. Er kennt sich noch nicht so aus.«
Der Bibliotheksleiter kam hinzu, was Peter noch mehr in Verlegenheit brachte. Aber anstatt weitere Ermahnungen auszusprechen, führte der Mann Peter in die Kinderabteilung und zog Winnetou, der rote Gentleman aus dem Regal. »Die Cowboy- und Indianerbücher von Karl May sind besser für dich«, sagte er. »Der Führer hat sie im Knabenalter sehr gern gelesen.«
Peter nahm das Buch mit nach Hause und las über den weisen alten Apachenhäuptling Winnetou und seinen deutschen »Blutsbruder« Shatterhand, der Feinde mit einem einzigen Fausthieb niederzustrecken vermochte. Es verwirrte ihn, dass Hitler gern über die Eingeborenen von Nordamerika gelesen hatte, während er andere nichtdeutsche Völker wie Slawen oder Juden derart verachtete.
Ein weiteres Buch, das er ausgeliehen hatte – Durch die weite Welt –, war sehr viel interessanter. Es beschrieb eine Zukunft, in der es riesige Passagierluftschiffe, doppelstöckige granatenförmige Untergrundbahnen, Landeplätze für Hubschrauber auf Flachdächern von Hochhäusern und eine breite,
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