Ausländer
keineswegs beruhigt. Umso mehr freute es ihn, als Tante Liese verkündete, sie werde ihn umgehend in der nächsten Schule anmelden.
In Polen waren sämtliche Schulen geschlossen worden, als die Deutschen kamen. Peters Mutter, die vor ihrer Ehe Lehreringewesen war, hatte ihn deshalb zu Hause unterrichtet. Er besaß eine rasche Auffassungsgabe, war neugierig und hatte Spaß am Lernen gehabt, aber die Gesellschaft anderer Kinder vermisst. Es würde schön sein, wieder in eine richtige Schule zu gehen, mit Wandtafeln und Pulten und einem Pausenhof.
Am ersten Tag stellte ihn der Direktor bei der morgendlichen Zusammenkunft der versammelten Schülerschaft vor, was Peter sehr verlegen machte. »Peter ist ein rassisch reiner Volksgenosse. Wir haben ihn im Geiste nationalsozialistischer Kameradschaft willkommen zu heißen. Er ist kein Ausländer, sondern einer wie ihr und ich.«
Diese Worte taten das ihre, obgleich einige Kinder ihn trotzdem wegen seines leichten polnischen Akzents hänselten. Aber Peter war hochgewachsen und sehr sportlich. Und daher alles andere als ein typisches Opfer von Schulpöbeleien.
Im Unterricht schien sich der Lehrstoff fast ausschließlich um Politik zu drehen. Selbst die Aufgaben in den Mathematikbüchern handelten von politischen Themen:
Der Schandvertrag von Versailles, der uns von Franzosen und Engländern aufgezwungen wurde, ermöglichte der internationalen Plutokratie, Deutschlands Kolonien an sich zu reißen. So eignete sich Frankreich einen Teil von Togoland an. Wenn Deutsch-Togoland 56 Millionen Quadratkilometer umfasst und 800 000 Einwohner zählt, wie viel Lebensraum steht dann pro Einwohner zur Verfügung?
Oder:
Der Bau eines Irrenhauses kostet 6 Millionen Reichsmark. Wie viele Wohnhäuser zu je 15 000 Reichsmark könnte man für diesen Betrag bauen?
Peter war beeindruckt. Solche Fragen brachten einen richtig zum Nachdenken. In Polen waren die Mathematikaufgaben vollkommen langweilig gewesen: »Wenn ein Bauer fünf Hühner hat und jedes sieben Eier pro Woche legt, wie viele Eier wird er dann in drei Wochen produzieren?«
Der Leibeserziehung wurde viel Zeit eingeräumt. Hier in Berlin schienen Gesundheit und körperliche Ertüchtigung mehr zu zählen als das Lernen. In Polen hatte sich Peter nach der Schließung der Schulen durch die Arbeit auf dem Hof in Form gehalten. Jetzt genoss er es, wieder Mannschaftssport zu betreiben.
Am Ende der ersten Woche fragte Herr Kaltenbach ihn beim Abendessen, wie es ihm in der Schule ergehe. »Es gefällt mir sehr gut«, gab Peter zurück. »Leibeserziehung macht Spaß, aber wir haben so viel davon. Ich hätte nichts dagegen, mehr zu lernen.«
Kaltenbach zauste ihm das Haar. »Knaben, die noch im Wachstum sind, brauchen viel körperliche Ertüchtigung. Wenn du mehr lernen willst, als man euch in der Schule beibringt, kannst du ja in die Bibliothek gehen. Und ich unterhalte mich auch gern mit dir über den Unterrichtsstoff. Aber vergiss nicht, was unser Führer sagt: ›Die übermäßige Betonung des rein geistigen Unterrichtes und die Vernachlässigung der körperlichen Ausbildung fördern aber auch in viel zu früher Jugend die Entstehung sexueller Vorstellungen.‹«
Die Mädchen kicherten. Elsbeth und Frau Kaltenbach blickten etwas betreten drein. Peter errötete. Er vermutete, dass Herr Kaltenbach ihn necken wollte.
Rasch wechselte Frau Kaltenbach das Thema. »Charlotte, du musst uns noch das Abendgebet vortragen, das ihr heute in der Schule gelernt habt.«
Charlotte stand auf und hob die rechte Hand zum Nazigruß.
»Führer, mein Führer, von Gott mir gegeben, beschütz und erhalte noch lange mein Leben! Du hast Deutschland errettet aus tiefster Not …« Sie brach ab und runzelte die Stirn.
»Dir verdank ich …« , soufflierte Frau Kaltenbach.
»Dir verdank ich mein täglich Brot« , sagte sie das Gebet weiter herunter, am Ende immer schneller werdend. »Führer, mein Führer, mein Glaube, mein Licht, Führer mein Führer, verlasse mich nicht! Heil dir, mein Führer!«
Alle klatschten, und Charlotte blickte sehr zufrieden drein.
»Und wie war dein Hockeyspiel, Traudl?«, fragte Frau Kaltenbach.
»Wieder gewonnen«, sagte sie grinsend.
»Machst du auch viel Sport?«, fragte Peter. Er wollte das Gespräch auf sichere Distanz zum Thema »sexuelle Vorstellungen« halten.
»Oh ja«, erwiderte Traudl und begann an den Fingern abzuzählen: »Hockey, Korbball, Schwimmen – alles für die Schule, und ich bin auch in der
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