Ausländer
Erfüllungsgehilfen der Ziele des Dritten Reiches. Die Reiters nannten solche Leute, wenn sie am Esstisch unter sich waren, »die Hundertprozentigen«. Diejenigen, die dem Regime voll und ganz hörig waren. Und das war offenbar die Mehrheit. Aber man wusste nie. Auch der strammste Nazi spielte vielleicht nur Theater.
Anna wünschte auch, in Schweden geboren zu sein wie ihr Cousin Lennart und ihre Cousine Tilda. Die Schwester ihrer Mutter, Tante Mariel, hatte 1930 einen schwedischen Diplomaten der Berliner Botschaft geheiratet und war noch im selben Jahr nach Schweden gezogen. Mariel kam nach wie vor zu Besuch, selbst jetzt im Krieg. Sie machte kein Hehl aus ihrer Abscheu gegenüber dem Nazi-Regime und war sehr um Ula und deren Familie besorgt.
Dazu hat sie auch allen Grund , dachte Anna. Ula und Otto hatten immer jüdische Freunde gehabt. Doch dann hatte Herr Pfister, ihr verhasster Blockwart, sie gewarnt, solche Freundschaften seien undeutsch und könnten sie ins Visier der Gestapo bringen. Die Reiters waren nicht dumm. Sie wurden nun vorsichtiger, mit wem sie sich wo trafen.
Annas Mutter hatte ihr von ihrer Freundin Rachel erzählt, die 1938 von der Zeitschrift, für die sie beide arbeiteten, entlassen worden war. Rachel war die beste Korrektorin im Verlag gewesen, und alle bedauerten, dass sie gehen musste. Man hatte Rachel in den Osten gebracht. »Umgesiedelt« oder »abgewandert«, so wurde das genannt. Jetzt gab es nur noch sehr wenige Juden in Berlin. Manche waren bloß deshalb noch da, weil ihre Arbeit als wichtig eingestuft wurde. Und manche waren einzig undallein aus dem Grund noch da, weil die Nazis sie bisher nicht deportiert hatten. Vor Kurzem hatten die Reiters das Gerücht gehört, dass die Juden in den Osten gebracht wurden, um dort getötet zu werden.
Anfangs hatten Ula und Otto solche Behauptungen als Feindpropaganda abgetan. Wie die Ammenmärchen, die die Briten im Großen Krieg in Umlauf gebracht hatten – dass die deutsche Armee ihre Gefallenen einsammeln und ins Vaterland zurückbringen lasse, um aus ihnen in grausigen Kadaververwertungsanstalten Seife, Kerzen und Glyzerin herzustellen.
Als Annas Bruder Stefan von der Ostfront auf Heimaturlaub nach Hause kam, fragten sie ihn, ob an diesen Geschichten irgendetwas Wahres dran sei. Sie hofften, er würde die Frage mit einer spöttischen Bemerkung abtun, aber was er erzählte, erfüllte sie mit Grauen.
Kapitel elf
13. Oktober 1941
Am Tag nach Peters vierzehntem Geburtstag eröffnete ihm der Fähnleinführer des Deutschen Jungvolks, man erwarte seine Teilnahme an der großen Parade am 13 . Oktober, da er jetzt alt genug sei, um in die Hitlerjugend aufgenommen zu werden. Als Peter dies den Kaltenbachs berichtete, bedachte ihn der Professor mit einem stolzen Blick und erklärte: »Dies ist der heiligste Moment im Leben eines jeden jungen Deutschen.«
Nun war dieser Moment gekommen, und Peter und seine Kameraden sangen aus voller Kehle:
Uns’re Fahne flattert uns voran,
In die Zukunft ziehen wir Mann für Mann.
Wir marschieren für Hitler
Durch Nacht und durch Not
Mit der Fahne der Jugend
Für Freiheit und Brot.
Uns’re Fahne flattert uns voran,
Uns’re Fahne ist die neue Zeit.
Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit!
Trommeln wurden geschlagen, Trompeten schmetterten eine Fanfare. Die Instrumente schimmerten in der Herbstsonne, schwarze Fahnen mit dem »Siegrune«-Symbol flatterten im Wind.
Das Singen in der Masse, im Freien, versetzte die Jungen in Hochstimmung. Etwas Ähnliches hatte Peter empfunden, wenn er an Weihnachten mit seinen Eltern in der Kirche gewesen war. Es war jetzt ein wenig wie damals, allerdings sangen hier hunderte Stimmen und nicht nur einige wenige wie damals in der Christmette.
Als das Lied beendet war, legte sich eine tiefe Stille über die rund tausend Jungen, die sich auf dem Sportfeld an der Potsdamer Straße versammelt hatten. Auf der Tribüne am Rand des Felds drängten sich die Eltern und Verwandten.
Heute erwies ihnen der Führer der HJ , Reichsjugendführer Artur Axmann, die Ehre, aus Anlass ihrer Aufnahme eine Rede zu halten.
Am einen Ende des Sportfelds war eine große Bühne errichtet worden, flankiert von Lautsprechern an spindeldürren Gerüsten. Die Bühne zierten lange rot-weiße Fahnen mit schwarzem Hakenkreuz. Die Banner sämtlicher HJ -Gefolgschaften des Gaus Groß-Berlin hingen schlaff daneben.
»Gefolgschaften, rührt euch!«, schallte eine schrille, metallische Stimme aus den
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