Ausländer
eingefangen hat. Es erinnert mich fast an Holbein oder Cranach.«
Peter verstand die Spitze sofort und wusste nicht, ob er vorSchreck im Erdboden versinken oder sich ins Fäustchen lachen sollte. Elsbeth warf Anna manchmal einen scharfen Blick zu, sagte aber nie ein Wort.
Franz und Liese Kaltenbach gaben zu verstehen, dass sie gern Annas Eltern kennenlernen wollten. Liese kannte Ulas Artikel aus der Frauenwarte, und vor dem Oberst hatten beide große Hochachtung. Doch Peter und Anna war klar, dass ein solches Treffen qualvoll werden würde, und so versprach Anna zwar stets, ihre Eltern zu fragen, dachte sich dann aber jedes Mal eine Entschuldigung aus, die meist mit der Arbeitsbelastung ihrer Eltern zu tun hatte.
Eines Abends im Frühherbst, als Anna zum Essen kam, begann sich Kaltenbach über einen Zeitungsbericht zu ereifern, den er gerade gelesen hatte. Es ging dabei um eine Gruppe von Jugendlichen, die in einem Berliner Tanzlokal festgenommen worden war. »Swing-Jugend, so nennen die sich. Die Jungen haben lange Haare, diese Schlappschwänze, und staffieren sich mit knallbunten Anzügen und Schals aus. Und die Mädchen, die tragen ihr Haar offen und malen sich das Gesicht an. Schlampen!
Und dann noch die Musik, dieser fürchterliche Jazz oder ›Swing‹, wie immer man das auch nennt. Was für eine ruchlose Kultur haben die Amis da in der Jauchegrube ihrer Nation zusammengebraut. Das kommt heraus, wenn man die Rassen so leichtfertig vermischt. Und das Schlimmste von allem ist das Tanzen. Einfach unschicklich. Burschen und Mädel hüpfen zusammen herum und schütteln sich dabei wie Geisteskranke. Manchmal wirbeln die Mädchen in ihren Röcken so im Kreis, dass jeder ihre Unterhosen sehen kann. Die reinste Pornografie.«
Die Kaltenbach-Töchter zeigten alle drei angemessenes Entsetzen.
Peter konnte es nicht glauben. WO finden diese Veranstaltungen statt? , wäre es beinah aus ihm herausgeplatzt. Das klingt fabelhaft. Er wagte es nicht, Anna anzusehen, aus Angst, sie könnte seine Gedanken lesen.
Anna ergriff das Wort. »Das müssen französische oder russische Arbeitskräfte gewesen sein«, sagte sie mit ernster Miene. »Deutsche Jungen und Mädchen würden sich ganz bestimmt nicht so aufführen.«
Kaltenbach geiferte weiter und brachte seinen Abscheu zum Ausdruck. »Einige von ihnen sind erst vierzehn oder fünfzehn.« Beim Sprechen flogen Essenreste aus seinem Mund.
»Kaum zu fassen«, erwiderte Anna, »dass junge Menschen unseres Volkes, die alle im Geist des Nationalsozialismus erzogen sind, sich zu einem so undeutschen Betragen hinreißen lassen. Ich kenne niemanden, von dem ich mir vorstellen könnte, dass er so etwas tun würde.«
Alle waren sich einig, dass dergleichen zutiefst schockierend sei, doch niemand wusste dafür eine plausible Erklärung. Peter seinerseits war hingerissen von Annas schauspielerischer Glanzleistung.
Als er sie nach Hause begleitete, berichtete sie: »Mutti hat mir letzte Woche von der Swing-Jugend erzählt. Ich habe ihr gesagt, dass sich das ganz fantastisch anhört. All diese Leute, die auf die Naziparolen pfeifen. Aber Mutti war nicht besonders beeindruckt. Sie meinte, nach allem, was sie gehört habe, seien sie keineswegs rebellisch, sondern wollten einfach nur Spaß haben. Es seien Jugendliche wie du und ich, mit gut situierten Eltern, die einfach nur den Krieg vergessen wollten. Und dann hat siemich gewarnt: ›Lass dich bloß nicht mit denen ein. Die Gestapo und der Streifendienst der Hitlerjugend haben sie im Visier.‹«
Untergehakt gingen sie schweigend nebeneinanderher. Es war einer jener wunderbar frischen Herbstabende, an denen die Sterne kaltweiß von einem samtenen Himmel funkeln. Plötzlich kicherte Anna und zog Peters Arm noch näher an sich. »Wäre es nicht toll, einfach mal so tanzen zu gehen?«, fragte sie sehnsüchtig.
Tags darauf in der Schule traf Peter Segur und erzählte ihm davon. »Das klingt durch und durch abscheulich«, sagte er. »Besonders das Tanzen. Diese sichtbaren Mädchenbeine und Unterhosen und das Herumgehüpfe. Man stelle sich das bloß vor. Leute, die sich vergnügen, während unsere tapferen Soldaten an der Front so viele Opfer bringen. Das ist alles andere als patriotisch, oder?«
Ein paar Tage später berichtete Segur, ein Junge aus seinem Block namens Dieter treibe sich immer in einem Café in der Bülowstraße herum. Dort gebe es Jungen und Mädchen, die aussähen wie die in der Zeitung beschriebenen. »Lange Haare. Bunte
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