Ausländer
Lautstärkeregelung. Entweder war es so leise, dass man nichts verstehen konnte, oder so laut, dass die Nachbarn es mitbekommen würden.
Außerdem wurde das Sendesignal durch ein durchdringendes Pfeifen gestört, das lauter und leiser wurde – so war es schwierig, der Sendung zu folgen. »Das machen sie immer so – Vati sagt, man nennt das elektronische Störmaßnahmen«, sagte Anna. »Um die Leute am Hören zu hindern.«
»Warum sollte die BBC so etwas tun?«, fragte Peter.
Sie tippte ihm an die Stirn und rüttelte ihn an der Schulter.
»Die doch nicht, Dummkopf!« Sie lachte. »Diese Störungen kommen von unseren Leuten.«
Peter fühlte sich ein bisschen wie ein Idiot, aber es war schön, ihre Hand zu spüren, die immer noch auf seiner Schulter lag.
»Vati wüsste, wie man das hinkriegt«, sagte Anna. »Nicht, dass ich ihm was davon erzählen würde. Er wäre wütend, wenn er es erführe.«
Schließlich, nach viel Geknister und etlichen vergeblichen Versuchen, waren sie so weit, dass sie in Ruhe zuhören konnten. Das Radio war nun laut genug, um die Sendung trotz des Pfeiftons verfolgen zu können, aber wahrscheinlich zu leise, um in der Nachbarwohnung gehört zu werden. Sie bekamen gerade noch die letzten Minuten der Musiksendung Aus der freien Welt mit, die Swing und »heißen Jazz« brachte – Musik, die in Deutschland verboten war, weil sie hauptsächlich von jüdischen Musikern gespielt wurde. Die Musik klang aufregend, aber wegen des an- und abschwellenden Pfeifens konnte man sie nicht recht genießen. Dann war es Zeit für die Nachrichten.
Der Nachrichtensprecher, ein Brite, stellte sich als Lindley Fraser vor. Er sprach sehr gut und fast akzentfrei Deutsch und verkündete, dass amerikanische Truppen in großer Zahl in Großbritannien einträfen.
Das überraschte Peter. Professor Kaltenbach hatte ihm erklärt, die Amerikaner würden kein Interesse daran haben, gegen die Nazis zu kämpfen – nur gegen die Japaner. Er wollte etwas dazu sagen, aber Anna wirkte so konzentriert, dass er sie nicht stören wollte. Schweigend hörten sie weiter zu. Es war merkwürdig, eine so ganz andere Sichtweise der Geschehnisse in der Welt zu erfahren.
Nach den Nachrichten kam wieder Tanzmusik, der sie mit breitem, verschwörerischem Grinsen lauschten und dabei im Rhythmus die Schultern bewegten. Peter genoss es, Anna so nah zu sein. Beide hielten sie die Köpfe dicht an den Lautsprecher, und er spürte die Wärme ihres Körpers und ihren Atem. Sie änderte ihre Sitzposition ein wenig, dann legte sie ihre Hand auf seine. Peters Herz machte einen Sprung.
Ein paar Tage später lud Anna ihn zum Abendessen ein und stellte ihn ihren Eltern vor. Peter fand sie ziemlich einschüchternd. Oberst Otto Reiter war ein großer, stattlicher Mann mit stahlblauen Augen und einer schroffen Art. Ula Reiter war schick und schön und machte einen beeindruckend zupackenden Eindruck.
Aber sie taten ihr Möglichstes, damit er sich wohlfühlte. Beim Abendbrot sprachen beide über den Krieg, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Nicht, dass sie irgendetwas geäußert hätten, was man als »Verrat« hätte auslegen können, aber es war doch offenkundig, dass sie eher eigene Gedanken formulierten, als die offizielle Parteilinie nachzubeten. Auf Peters Frage, wie es ihrem Sohn Stefan im Ostland ginge, erwiderte der Oberst: »Ich habe tagein, tagaus Angst um Stefan.« Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Napoleon ist vor einhundertdreiundzwanzig Jahren in Russland einmarschiert, fast genau am gleichen Tag wie wir. Es ist ihm sogar gelungen, Moskau einzunehmen. Vielleicht schaffen wir das ja auch. Aber danach, wer weiß, was dann passiert …«
Sie sprachen ziemlich offen über die Zwänge, die die Nazipartei ihnen im Alltag auferlegte.
Zu Hitlers Geburtstag am 20 . April vergaß Ula, Hakenkreuzfahnen aus dem Fenster zu hängen. Peter war gerade zu Besuch, als Herr Pfister, der Blockwart, an die Tür klopfte und verlangte, ordentlich zu flaggen. Nachdem er wieder gegangen war, erzählte Ula grinsend: »Als Frankreich fiel, haben wir es auch vergessen. Pfister war wütend. Zwei Stunden gab er uns, um eine Fahne aufzutreiben und herauszuhängen, sonst hätte er uns der Gestapo gemeldet.«
Für Frau Kaltenbach wäre das Anlass zu tiefer Scham gewesen. Frau Reiter konnte darüber nur lachen. Peter gewann den Eindruck, dass es sich dabei nicht um absichtliche Akte des Widerstands handelte. Den Reiters waren die Nazirituale und die
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