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Ausländer

Ausländer

Titel: Ausländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
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überflog. Dann griff sie nach einem Formblatt, an das das Foto eines verwahrlosten dunkelhaarigen jungen Mannes geheftet war, der düster in die Kamera starrte.
    »Das ist das Projekt von Doktor Magnussen«, erklärte Elsbeth. »Ich habe sie kennengelernt – sie arbeitet mit Vater am Institut. Sie versucht herauszufinden, ob es zwischen Rasse und Irismuster einen Zusammenhang gibt.«
    Peter sah sie verständnislos an.
    »Die Iris, Dummkopf«, sagte sie und deutete dabei auf ihr Auge. »Deshalb schicken sie ihr aus einem der Lager Augäpfel. Dieser junge Mann, das ist ein Sinti – eine bestimmte Art Zigeuner. Dieses Formblatt kam zusammen mit seinen Augen. Wahrscheinlich haben sie ihn umgebracht, gleich nachdem das Foto aufgenommen wurde. Vermutlich schicken sie der FrauDoktor Augäpfel von Juden, Slawen und Russen. Und auch von Deutschen, die der Gestapo in die Hände gefallen sind. Ich kann das nicht länger ansehen«, sagte sie.
    Sie legte die Papiere zurück auf den Schreibtisch und ging hinaus. Eilig versuchte Peter, den Schreibtisch wieder in genau den Zustand zu versetzen, in dem er ihn vorgefunden hatte.
    Während sie in der Küche herumhantierte, sagte Peter: »Ich dachte, ihr wärt alle ausgegangen. Die Tür war doppelt abgesperrt.«
    »Ich mache das manchmal, wenn ich hier allein bin. Ich fühle mich nicht sicher, wenn die Tür nicht ganz verriegelt ist.«
    Gemeinsam setzten sie sich ins Wohnzimmer und tranken Kaffee. Peter überlegte, ob sie wohl immer noch alles ihrem Vater erzählen wollte. Aber sie hatte das Schriftstück ja ebenfalls gelesen. Sie war also zu seiner Komplizin geworden. Auch sie war jetzt schuldig.
    »Ich frage mich, wie viel der Führer von diesen medizinischen Experimenten weiß«, sagte sie. Dann korrigierte sie sich. »Nein. Ich kann mir nicht länger etwas vormachen. Ich bin sicher, der Führer weiß Bescheid. Was ich nicht verstehe, ist, wie etwas, das für Deutschland gut und richtig war, sich in etwas so Fehlgeleitetes verwandeln konnte. Ich weiß noch, als ich ein kleines Kind war … bevor du geboren wurdest, wie schrecklich es war in diesem Land. Wir haben immerzu Hunger gelitten. Die gesamten Ersparnisse meiner Großeltern reichten nicht einmal für einen Laib Brot. Es gab Straßenkämpfe. Und dann kam der Führer und hat uns von all dem erlöst …«
    Das alles trug sie mit ausdruckloser, monotoner Stimme vor. Mit unbewegter Miene, ohne Peter anzusehen. Er fragte sich, was sie so hatte werden lassen.

Kapitel sechsundzwanzig
    »Ich habe alles richtig gemacht«, sagte Elsbeth und lehnte sich mit geschlossenen Augen in den Armsessel zurück. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und blies Rauchwolken zur Decke.
    »Ich war die perfekte Nationalsozialistin. Jungmädel mit acht. Gruppenführerin im Bund Deutscher Mädel mit vierzehn. Von unserer Mädelschar wurde ich auserwählt, den Führer zu treffen. Als er mir in die Augen sah, gelobte ich, mein Leben Deutschland zu widmen. Ich habe sogar versucht, dem Führer ein Kind zu schenken, als ich einen jungen SS -Offizier kennenlernte. Ich wusste, Mutter würde das verstehen und mir einen Platz in einem der Lebensborn-Heime besorgen.
    Aber ich wurde nicht schwanger, also ließ ich mich zur Krankenschwester ausbilden und übernahm freiwillig die schwierigen Aufgaben – ich kümmerte mich um die Unheilbaren, die Schwachsinnigen und die Krüppel. Irgendjemand muss das ja tun, und für mich war es Dienst am Vaterland.
    Man trug uns auf, jedes Kind bis zum Alter von drei Jahren zu melden, mit dem etwas nicht in Ordnung war. Die Kinder wurden aus dem Krankenhaus in eine ›Kinderfachabteilung‹ gebracht. Man holte sie mit einem großen alten Bus ab, dessen Scheiben schwarz gestrichen waren. Wir erzählten den Eltern, dass dort für ihre Kinder besser gesorgt werden könne.
    Unter dem Pflegepersonal ging das Gerücht, dass die Kindereingeschläfert würden wie kranke Tiere. Mit Morphin, Veronal, Luminal. Mit der richtigen Dosis von einem dieser Mittel sei die Sache schnell erledigt. ›Gnadentod‹ nannte man das. Ich war entsetzt, als ich davon hörte.«
    Peter sah ihr zu, wie sie die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte und dann aufstand, um sie in den Mülleimer zu werfen. Es erstaunte ihn, dass sie so mit ihm sprach.
    »Aber dann, nach einigem Nachdenken, leuchtete es mir ein«, erzählte sie weiter und setzte sich wieder in den Sessel. »›Zum Wohl des Vaterlands‹, das war der Ausdruck, den wir dafür verwendeten.

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