Ausländer
Vergehen ist, sind wir gewillt, Nachsicht walten zu lassen.«
In Segurs Kopf drehte sich alles. Ob sie ihn einfach nach Hause schicken würden? Dann waren sie ja doch nicht so schlimm, wie man sich erzählte. Anna und Peter hatten übertrieben.
Der Mann schob eine Liste mit Namen zu ihm hinüber. »Hier, all diese Leute haben wir unter Arrest, weil sie sich im Café Berta wie eine Horde Wilder aufgeführt haben. Jetzt möchte ich, dass du genau nachdenkst und mir sagst, ob dir der eine oder andere Name bekannt vorkommt.«
Segur kannte keinen der Leute und sagte das nach eingehendem Studium der Liste auch. Er war erleichtert, dass Anna und Peter nicht darauf standen.
»Komm mit«, forderte der Leutnant ihn auf. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Er griff Segur sanft am Arm und führte ihn den Weg zurück, den er gekommen war, den Flur entlang und dann in den Keller hinunter. Nachdem er einem der uniformierten Wärter einen Befehl zugebellt hatte, öffnete dieser eine Tür. Segur glaubte, sie wollten ihn in eine Zelle stecken, doch stattdessen kommandierte der Leutnant: »Holzmann! Stillgestanden!«
Ein Lumpenhaufen in einer Ecke der Zelle rührte sich und kämpfte sich mühsam auf die Beine. Sein Gesicht war derart zerschlagen und blutverschmiert, dass Segur nur raten konnte, wie es wirklich aussah.
»Gut«, sagte der Leutnant zu niemand Speziellem. Dann erklärte er dem Gefangenen: »Heute Abend komme ich wieder, um mit dir reden.«
Sie gingen zurück ins Büro.
So schwach, wie Segurs Beine sich anfühlten, war es ein Wunder, dass er überhaupt noch laufen konnte.
»Du bist, wie ich hoffe, ein vernünftiger Junge aus einer respektablen deutschen Familie.« Er warf einen Blick in seine Akte. »Wittenbergplatz? Gute Gegend da, wo du wohnst. Deine Eltern werden sicher entsetzt sein, dass du Ärger mit uns hast.
Ich sage dir jetzt, was ich tun werde. Ich schicke dich nach Hause. Du kannst deiner Mutter erzählen, dass du von Polacken, die Trümmer beseitigen, zusammengeschlagen wurdest, irgend so etwas. Dann, ungefähr in einer Woche, kommst du wieder zu mir. Wenn du dich bis dahin an irgendjemanden erinnern kannst, der bei der Tanzerei dabei war, irgendjemand, der nicht auf der Liste steht, wäre das eine große Hilfe.«
Segur konnte kaum an sich halten vor Dankbarkeit. »Danke, Herr Leutnant«, stieß er hervor.
»Nenn mich Onkel Gustav. Komm in einer Woche wieder.Und danach kommst du immer, wenn du etwas über diesen ›Swing‹-Quatsch oder andere kriminelle Aktivitäten erfährst, und erzählst es mir.
Und kein Sterbenswort zu niemandem. Ich würde es erfahren, und dann … Na, das brauche ich dir wohl nicht zu erklären …«
Segur gehorchte. Nach einer Woche kam er wieder, und Brauer zeigte ihm die Liste erneut. Ihm fiel auf, wie sehr die Hand des Jungen zitterte, als er das Blatt nahm.
»Ich kenne keinen von denen, Herr Leutnant«, sagte Segur mit flehendem Blick.
Brauer glaubte ihm. Er war gut in solchen Dingen, sagte er sich. Er wusste, wann jemand die Wahrheit sprach oder log.
»Nenn mich Onkel Gustav«, wiederholte er. »Du musst doch ein paar von ihnen kennen, sonst hättest du nicht von dem Fest erfahren.« Seine Stimme klang ruhig und vernünftig.
»Meine Freunde haben es mir erzählt«, platzte Segur heraus.
»Und die sind selbst nicht hingegangen?«
Segur zögerte zu lange. »Nein, sie sind nicht hingegangen«, antwortete er schließlich.
Brauer lächelte. »Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Etliche Leute konnten entkommen. Deine Freunde auch?«
Segur starrte auf seine Füße. Er war so aufgeregt, dass er kaum ein Wort herausbrachte. »Wahrscheinlich, ja.«
Brauers Stimme wurde hart. »Nenn mir ihre Namen.«
Segur suchte Leutnant Brauer nicht mehr auf. Während die Monate vergingen, wuchs in ihm die Hoffnung, die Gestapo habe ihn vergessen. Doch Ende Juni erschien eines Tages Brauer bei ihm, begleitet von zwei Polizisten. »Routinebefragung, Frau Segur«, beruhigten sie seine Mutter. Dann durchsuchten sieSegurs Zimmer von oben bis unten. Die Schallplatten von Duke Ellington, Benny Goodman und Count Basie wurden konfisziert.
»Morgen kommst du zu mir«, sagte Brauer. »Punkt halb fünf.«
Segur verbrachte eine schlaflose Nacht, in der er sich dafür verfluchte, sich die verbotene Musik nicht vom Hals geschafft zu haben. Er hatte auf dem Schwarzmarkt so viel für die Scheiben bezahlt, dass er sich von ihnen einfach nicht hatte trennen können.
Brauer ließ ihn eine
Weitere Kostenlose Bücher