Ausländer
kühle Bahnhofshalle. Nie zuvor war Peter im Lehrter Bahnhof gewesen, und so staunte er über die Größe der Halle und die schönen glasierten Kacheln an den Wänden. Weiter vorne standen Polizisten und Soldaten.
Während sie immer näher an den Kontrollpunkt heranrückten, patrouillierten die Soldaten neben den Reihen und hielten nach auffälligen Personen Ausschau. Nach Juden oder Fremdarbeitern, die zu fliehen versuchten, oder jungen Männern kriegstauglichen Alters in Zivilkleidung. Der erste Polizist, der die Reihe abschritt, kam geradewegs auf sie zu.
Er sprach Ula an. »Warum verlassen diese Kinder die Stadt? Sie sind beide alt genug für den Dienst in der Luftschutzbrigade.«
Peters Herz begann wie wild zu pochen. Ula blickte beleidigt drein. Dann begann sie stockend und mit starkem Akzent zu antworten. »Wiehr jetzt kähren surück nak Swäden für eine Begräbnis. Meine Mann arbeiten hier.«
Sofort legte der Polizist ein anderes Verhalten an den Tag. »Verzeihung, meine Dame. Ich hoffe, Sie haben Verständnis, dass ich Sie um Ihre Ausweise bitten muss.«
Sie holte die Pässe aus ihrer Handtasche. Es war vereinbart worden, dass Ula die Papiere von allen dreien bei sich tragen sollte, so wie eine Mutter im Ausland es wahrscheinlich machen würde. Vor allem, wenn ihre Kinder die Landessprache nicht beherrschten.
Der Polizist nahm sich Zeit. Peters erste instinktive Reaktion war, ihn ängstlich anzustarren. Da er aber wusste, dass ihn das verdächtig gemacht hätte, blickte er beiseite. Er musste sämtliche Willenskraft aufbieten, um den Mann nicht anzusehen, und wagte kaum zu atmen, während sie warteten, was der Polizist als Nächstes tun würde.
»Kommen Sie bitte mit«, sagte der jetzt. Peter und Anna waren schon im Begriff aufzustehen, als Ula rasch ein paar Worte auf Schwedisch zu ihnen sagte. Zum Glück war dem Polizisten nicht aufgefallen, dass sie ihn verstanden hatten. Doch an UlasAugen konnte Peter ablesen, dass sie innerlich kochte wegen der Dummheit der beiden.
Sollten sie weglaufen? Was würde nun passieren? Nicht sprechen zu können, verschlimmerte die Situation noch zusätzlich. Die drei folgten dem Polizisten. Wieder sagte Ula etwas auf Schwedisch zu ihnen, worauf sie nickten und mit »ja« antworteten – das zumindest war einfach. Dieses Wort war im Deutschen und Schwedischen gleich.
Der Polizist führte sie zu einer kleinen Wache am Rand der Bahnhofshalle. Dort bat er sie, in einem Warteraum Platz zu nehmen, und ließ sie allein.
Peter konnte sich nicht mehr zurückhalten. Außer ihnen war niemand im Raum, deshalb fragte er flüsternd: »Und jetzt? Was sollen wir machen?«
»Wir müssen einfach abwarten, was der Polizist tut«, erwiderte Ula. »Seht mal. Er hat uns hier allein und unbewacht zurückgelassen. Wenn wir von hier verschwinden, macht uns das verdächtig. Also müssen wir warten.«
Anna legte Peter eine Hand auf den Arm und drückte ihn fest.
Sie warteten. Peter konnte eine der Bahnhofsuhren sehen. Zitternd bewegten sich die Zeiger im Schneckentempo von 11 . 43 Uhr zu 11 . 58 Uhr. Es war wie eine Ewigkeit.
Insgeheim malte sich Peter bereits aus, was geschehen würde. Man würde sie in einen Polizeiwagen stecken. Man würde sie grün und blau prügeln. Ihnen die Knochen brechen und die Zähne ausschlagen. Er hatte über die Vernehmungsmethoden der Gestapo weit mehr gehört, als ihm lieb war. Dann würde man sie vor den Volksgerichtshof stellen und zum Tode verurteilen. Alle drei. Wie würde er sich verhalten, wenn sie ihn imPolizeigriff zur Guillotine führten? Würde er vor Angst wimmern oder tapfer sein? Und was wäre danach? Ging es wirklich so schnell, wie man behauptete? Lebte der Kopf noch eine Weile weiter? Würde er es spüren, wenn sein Kopf in den Korb fiel?
Plötzlich wurde die Tür zum Warteraum aufgestoßen. Ein Bahnbeamter kam herein. »Frau Edlund? Gut. Der nächste Zug mit Anschluss an die Fähre in Sassnitz fährt erst heute Nachmittag um vier. Wir sorgen dafür, dass sie einen Platz im Zug bekommen. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Sie können die Wartezeit gerne hier drinnen verbringen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
Peter musste sich ein Grinsen verkneifen. Es war wirklich schwierig, so zu tun, als verstünde man nichts.
Ula sah augenblicklich zehn Jahre jünger aus. »Danke sähr, mein Herr«, erwiderte sie mit ihrem schwedischen Akzent. »Kaffäh und Kuchän währen sähr willkommän.«
»Ich werde sehen, was ich
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