Ausnahmezustand
hingegen, wo Hindus und Muslime ärmer sind und schon immer Tür an Tür wohnten, gab es nur vereinzelte Übergriffe.
Wie in so vielen, insbesondere den islamischen Ländern, besinnen sich auch in Indien paradoxerweise vor allem die Mittelschichten auf ihre eigene Kultur, also jene Menschen, deren Leben am stärksten in die Globalisierung einbezogen ist. Plötzlich achten Fernsehsender auf die religiöse Unbedenklichkeit ihrer Programme, und abgeschlossene Wohnsiedlungen werben damit, daß in ihnen «das harmonische Leben, wie es vorgeschrieben ist in den Veden und Vedantas», zurückkehre. Das Lebensgefühl, das sich in solchen Anzeigen ausdrückt, ist nicht durch Haß bestimmt, der sich auch kaum mit den Wunschbildern vertrüge, die die moderne Werbeindustrie produziert, sondern eher durch Selbstvergewisserung, Wertverbundenheit und Frömmigkeit. Gegen die emphatische Säkularität der indischen Staatsgründer und die urwüchsige Multikulturalität des Subkontinents, von der Europa auch heute noch lernen könnte, sehnen sich immer mehr Inder nach einer hinduistischen Leitkultur, in der Muslime und Christen durchaus Filmstars werden können, Wirtschaftsführer oder sogar Spitzenpolitiker. Aber ihren Glauben sollten die Filmstars und Spitzenpolitiker nun nicht gerade öffentlich praktizieren, wogegen die hinduistische Prominenz auf jeden Pilgerzug springt, der gerade von einer Fernsehkamera gefilmt wird.
Selbst die Justiz, die sich über Jahrzehnte eine bemerkenswerte Unabhängigkeit bewahrt hat, scheint nicht mehr gegen den Virus gefeit, die eigene Gesellschaft aufzuteilen in ein hinduistisches «Wir» und ein andersgläubiges «Sie». Während Hindu-Extremisten kaum je belangt werden, reicht oft ein bloßer Verdacht, um Muslime als mutmaßliche Terroristen zu verhaften. Der Skandal um die angeblichen Attentäter auf das indische Parlament, die 2001 monatelang ohne Kontakt zu Anwälten hinter Gitter saßen, auch gefoltert wurden, nur um sich am Ende – bis auf einen – als unschuldig zu erweisen, ist nur das bekannteste von vielen Beispielen der jüngeren Zeit. Man kann sagen, am Ende sind die Verdächtigen freigekommen, die vielen Proteste haben der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen, die Zivilgesellschaft hat sich bewährt. Aber die Bewährungsproben werden größer – und nicht immer bestanden: Es ist diese viel unscheinbarere Entwicklung, für die Gujarat ein Laboratorium geworden ist, nicht der dumpfe religiöse Haß. Nirgendwo anders überträgt sich die Entdeckung und Konstruktion dessen, was als das Eigene gilt, so deutlich auf die soziale Praxis.
Allein an einem langen Eßtisch der Mensa sitzt ein älterer Herr, der durch seine Mütze und den Kinnbart als Muslim zu erkennen ist. Als ich mich zu ihm setzen möchte, steht der Herr auf, um das Tablett zurückzubringen. Gut, sein Teller ist leer, er wollte vielleicht wirklich gehen, dennoch irritiert die Eile. Ich beschließe, meinen Teller nicht leer zu essen, um dem Herrn zu folgen. Er ist ein Professor, stellt sich auf dem Hof heraus, einer der wenigen Muslime, die noch am Kolleg lehren, aber jetzt müsse er wirklich weg, nein, nein, alles sei gut, er habe lediglich noch einen dringenden Termin, nein, es sei alles gut, Gott sei gepriesen. Die Angst in seinen Augen ruft Erinnerungen an Diktaturen wach, Begegnungen mit Menschen, die sich ducken.
– Friede sei mit Ihnen, verabschiede ich ihn mit dem islamischen Gruß.
– Und mit Ihnen Frieden, gibt der Professor zurück.
Noch in der Bewegung, mit der er sich abwendet, murmelt ermir zu, daß die Muslime in Gujarat keine Zukunft hätten. Der da, und er blickt hinüber zur Bühne, wo gestern der Chief Minister über
development
und
capacity
sprach, der da sei sehr geschickt.
Die Zukunft Indiens
Noch immer leben sechzigtausend Muslime in behelfsmäßigen Lagern, angewiesen auf die Hilfe islamischer Organisationen, die nicht durchweg den mystischen Islam vertreten, wie er unter den Muslimen von Gujarat noch immer prägend ist. Die Verfahren gegen die Rädelsführer der Massaker verlaufen im Sande. In den staatlichen Institutionen oder den politischen Ämtern sind kaum noch Muslime tätig; auch bei neu geschaffenen Stellen in den Universitäten oder öffentlichen Einrichtungen haben sie so gut wie keine Chance. Wo sie nicht ohnehin nach Religionszugehörigkeit aufgeteilt sind, haben die Schulen H-Klassen für Hindus und M-Klassen für Muslime eingerichtet. Filme und Dokumentationen, die sich kritisch mit
Weitere Kostenlose Bücher