Ausnahmezustand
sie mich.
Gegen halb elf der Lärm, deshalb sah sie aus dem Fenster, schon stürmten die Angreifer in die Gasse ihres Stadtteils Neruda Patiya, alle dieselbe Kleidung: braune Shorts, orange Stirnbänder, riefen die Bewohner nach draußen, wo die Benzinkanister bereitstanden, dann so schnell Feuer, daß die Mutigsten und die Ängstlichsten verbrannten. Wie durch ein Wunder hat Bibi Khatun niemanden verloren. Ihrer Nachbarin Koussar Banu, die im neunten Monat schwanger war, schnitten die Angreifer den Fötus aus dem Bauch. Ja, Bibi Khatun hat es selbst gesehen. Eine Schwägerin nickt, die andere holt ein Photo hervor. Die Angreifer haben es getan, damit es alle sehen. Sie allein haben fünfundzwanzig abgeschnittene Körperteile gezählt. Umgerechnet hundert Euro Entschädigung gäbe es für eine Verletzung, dreihundert für ein verlorenes Bein, aber der Staat zahlt nicht, obwohl viele Organisationen auf ihrer Seite sind, auch Anwälte, gute Anwälte, die sie kostenlos vertreten. Hier die Papiere, schauen Sie, sogar aus Delhi haben wir einen positiven Bescheid erhalten, schauen Sie, hier in der Zeitung, selbst in der Zeitung steht’s. Ja, sie hatten Zeit, die abgeschnittenen Glieder zu zählen, die Polizei versperrte den Ausgang zur Hauptstraße. Die Angreifer hatten auch Zeit, vergewaltigten eine Frau nach der anderen. Sie auch? wage ich nicht zu fragen. Immer wieder schaue jemand vorbei und stelle die gleichen Fragen, ohne daß sich etwas ändere.
– Ich kann nichts ändern, gebe ich zu, ich kann nur dazu beitragen, daß Sie nicht vergessen werden. Nach mir kommt jemand, der an den 28. Februar 2002 erinnert, und wieder jemand und wieder, hoffentlich, und einmal wird sich schließlich etwas ändern, da sind sie dennoch dankbar für den Besuch, die Frauen alles andere als verschüchtert, kein Kopftuch, anmutige Gesichtszüge und schlanke Körper, viel Haut und noch mehr Selbstbewußtsein, obwohl das meiste von dem bißchen Unterstützung von islamischen Organisationen kam, Islamisten, wie der Übersetzer später bestätigt. Wie auf der ganzen Welt hatte die Vertriebenenie Probleme mit den Nachbarn. Wie auf der ganzen Welt waren es nicht die Nachbarn. Wie auf der ganzen Welt haben die Nachbarn auf die Häuser gezeigt, die in Brand gesetzt werden konnten.
In die Mitte
Inspiriert vom europäischen Faschismus und insbesondere von der Rassenlehre hat sich der Hindu-Nationalismus in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts herausgebildet und im RSS, der «Nationalen Freiwilligen Vereinigung», formiert. Noch heute bildet der RSS eine Art Dachverband für eine Reihe von teils sozialen, teils militanten Organisationen sowie für die Partei BJP. Der zentrale Begriff des Hindu-Nationalismus,
Hindutva
, fordert die harmonische Einheit aller Hindus innerhalb des hierarchischen Gefüges des Kastensystems. Gegen den Pazifismus Gandhis propagierte der RSS den wehrhaften Hinduismus, der angesichts der islamischen und christlichen Eroberer seine natürliche Friedfertigkeit überwinden müsse. Und gegen die säkularen Ideale der Unabhängigkeitsbewegung definierten die Nationalisten Indien als
Hindu Rashtra
, als das Land der Hindus. Christen und Muslime konnten darin per Definition nur Gäste sein, «illegitime» Staatsbürger, die im Falle der indischen Muslime daher von Hindu-Nationalisten bis heute als Pakistanis bezeichnet werden.
Lange Zeit war
Hindutva
ein Postulat vor allem der oberen Kasten, die am Erhalt der sozialen Hierarchie ein natürliches Interesse haben. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten gelang es den Nationalisten, durch die Beschwörung eines existentiellen Konfliktes mit Andersgläubigen die Spannungen innerhalb des Kastenwesens zu überdecken, die für die meisten Inder bis heute weit alltäglicher sind. Ein Fanal hierfür waren die Ereignisse in Ayodha Ende 1992, als dreihunderttausend hinduistische Pilger die Babri-Moschee zerstörten, um statt dessen einen Tempel für den Gott Ram zu bauen, der an dem Ort geboren worden sei. Es sind Politiker wie der siebenundfünfzigjährige Narendra Modi, die das Wählerpotentialder BJP entscheidend vergrößerten, weil sie selbst aus einer niedrigen Kaste stammen. Begünstigt durch die Korruption innerhalb der Kongreß-Partei, die Indien seit der Unabhängigkeit regiert hatte, stieg die BJP innerhalb weniger Jahre von einer Splitterpartei zur stärksten Fraktion im indischen Parlament auf, die zwischen 1998 und 2002 den indischen
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