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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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keinen gemäßigtenFundamentalismus. Einig ist sich die Gesellschaft, daß eine Wiederwahl des Chief Minister auch ihren Orden in Bedrängnis brächte, der doch schon immer hier war, seit der Gründung der Stadt vor fünfhundert Jahren. Als Rashid Baba zum Abschied mit vors Tor tritt, nimmt er beiläufig die Handküsse der Gläubigen entgegen.
    – Viel Glück für die nächsten fünfhundert Jahre, wünsche ich.
Das Loch
    Bibi Khatun kann sich nicht vorstellen, je wieder neben Hindus zu wohnen. Auch wenn sie weiß Gott nicht alle Nachbarn und schon gar nicht alle Hindus beschuldige, löse der bloße Gedanke Panik aus, nachts hat sie immer noch die Albträume. Andere Familien sind zurückgekehrt nach Neruda Patiya. Viel besser sehen die Häuser auch nicht aus als im Camp, denke ich zunächst. Dann begreife ich, daß es die Baracken der islamischen Wohlfahrt sind. Hundert Meter weiter fangen die Häuser der Hindus an, zweigeschossig, mit Veranda und Bäumchen, alles andere als prunkvoll, aber doch so, daß an vielen Mauern ein Moped lehnt, auf den Dächern Satellitenschüsseln. An der Rückseite des Viertels, wo sich damals der Mob sammelte, grasen Kühe auf einer Weide, die von der benachbarten Fabrik mit ihren Stacheldrahtzäunen daran gehindert wird, eine Idylle zu sein. Mitten im Gras liegt ein Betonring, zweieinhalb Meter im Durchmesser, ein Loch, wie sich herausstellt, vielleicht acht Meter tief, davor und darin der gleiche Müll und Gestank wie auf der Müllkippe, neben der Khatun Bibi heute lebt, die Innenwände schwarz vom Ruß. Auf dem Boden liegt eine alte Schultasche. Von dem Betontrichter habe ich bereits gelesen. Im Laufe des 28. Februar 2002 sind darin Dutzende von Leichen angezündet worden. «Wir haben sie verbrannt, weil diese Bastarde lieber begraben werden wollen», erklärte Babu Bajrangi in dem Interview mit
Tehelka
.
    Auf der anderen Seite des Viertels, am Ausgang zur Straße, dendamals die Polizei versperrte, steht seit kurzem wieder eine Moschee, nicht besonders hübsch, nicht besonders groß. Die alte Moschee haben die Männer von Babu Bajrangi dem Erdboden gleichgemacht. Für den Neubau haben auch Hindus Geld gesammelt.

EINE REISE ZU DEN SUFIS
Pakistan, Februar 2012
     

     
Gottes Rhythmus
    Was ist das nur für ein Rhythmus? So konzentriert ich auf meine Schenkel tippe, zähle ich eine Folge mal aus neun, mal aus elf, mal aus sechzehn rasenden Schlägen, sofern ich mich nicht täusche, aber ich täusche mich bestimmt, weil es eben ihre Undurchdringlichkeit ist, die mich, den Außenstehenden, in die Musik hineinzieht, so daß für Sekunden oder Minuten das Denken aussetzt, ich den Friedhof am Schrein des Schah Djamal in Lahore nicht mehr wahrnehme, obwohl meine Augen geöffnet sein müssen, da ich die beiden gewaltigen Trommeln doch sehe, die sich die Brüder Sain um den Hals gehängt haben, auch die vier Arme, allerdings nicht mehr die vier Stöcke, dafür wirbeln sie zu schnell. Viel zu kompliziert ist dieser Rhythmus, als daß er zum Mitklatschen, Mitgehen, Mitsummen einlüde, und doch wippen die Oberkörper der vielleicht zweihundert, vielleicht dreihundert Zuhörer, die unter den Bäumen dichtgedrängt sitzen oder auf den Stufen der Gräber stehen, viele mit geschlossenen Augen, manche mit kreisendem Kopf. Es sind größtenteils Menschen aus den unteren Schichten, wie man an den billigen Gewändern, in vielen Fällen auch an der dunklen Haarfarbe erkennt, einige Malangs darunter, wandernde Derwische, die wie altgewordene Hippies aussehen, lange Haare und Bart, Armreifen, Halsketten, Ohrringe und tiefe Furchen im Gesicht, mittendrin einige glattrasierte Herren in schlichten, aber vornehmeren Tüchern, die versonnen lächeln, und auch Jüngere in westlicher Kleidung, wohl Studenten, Ethnologen oder Künstler, die sich mit der Digitalkamera oder dem iPhone in der hochgehaltenen Hand für die reichen Traditionen des eigenen Volks interessieren.
    Immer wieder verläßt einer der Brüder den gemeinsamen Rhythmus, steigert sich in ein atemloses Solo, bricht ab, schert wieder ein.
Mast Qalandar
krächzt der ältere der beiden, Gonga Sain, dessenRuhm in pakistanischen Sufikreisen sich seiner herausragenden Kunst verdankt, aber wohl auch seiner Erscheinung, so stattlich wie aus einem Abenteuerfilm, riesige schwarze Augen, markante Wangenknochen, lange schwarzgelockte Haare, Bart und vielfarbige Ketten über dem schneeweißen Gewand. Zur Legende hinzu kommt, daß Gonga praktisch taubstumm ist;

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