Ausnahmezustand
an den «Holocaust» erinnert, wie jüngst Ministerpräsident Singh die Ereignisse von 2002 bezeichnete. Daß sich die Vereinigten Staaten bis jetzt weigern, Modi die Einreise zu erlauben, ist ein deutliches Signal von Indiens neuem Verbündeten. Die ärmeren Inder – und damit die Mehrheit der Wähler – haben ohnehin andere Sorgen als den Kampf gegen Andersgläubige. Ihr Kampf ist einer ums nackte Überleben. An die Regierung haben sie die BJP 1998 nicht wegen, sondern trotz ihrer hinduistischen Ideologie gewählt. Und sie haben die BJP abgewählt, weil sie keines der sozialen Versprechen eingelöst sahen.
Wo selbst die Atheisten beten
Auf dem Weg zur Moschee des Chisti bleibt der Fahrer am Rande der Ausfallstraße plötzlich stehen.
– Dort stand der berühmte Schrein von Wali Gujarati, sagen die Begleiter und zeigen zur Straßenmitte.
– Wo? frage ich
– Dort.
– Aber da ist nichts.
– Eben.
Ich folge meinen Begleitern auf den breiten Mittelstreifen. In der Dunkelheit erkenne ich die Umrisse des Teers, der später als die übrige Straßendecke aufgebracht wurde. Wali Gujarati war der erste Dichter Gujarats, der seine Verse nicht auf Persisch, sondern im einheimischen Urdu verfaßte. Sein Grab war ein Wallfahrtsort für Literaten und Mystiker, Muslime und Hindus. An einem einzigen Abend wurde es in Schutt und Asche gelegt. Keine Woche, da waren die Trümmer geräumt und die Stelle geteert, als sollte jede Erinnerung an die gemeinsame, größtenteils friedliche Geschichte von Hindus und Muslimen auf dem indischen Subkontinent ausgelöscht werden. Die Geschichte, wie sie von Fundamentalisten weltweit gelehrt wird, kennt die eigenen nur als Opfer, die anderen ausschließlich als Gewalttäter. Die Websites mit den täglichen Aggressionen der jeweils anderen weltweit funktionieren nach dem gleichen Muster und mit den gleichen Sprüchen, keine Toleranz den Intoleranten, weil sich weltweit alle für tolerant halten. Wie in Europa die jüdisch-muslimischen Wurzeln der Aufklärung oder im Vorderen Orient das jüdische und christliche Erbe des Orients, wird in Indien die Verschränkung der religiösen Traditionen geleugnet, die in der Mystik bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen. Noch im Zensus von 1911 bezeichneten sich zweihunderttausend Inder als Hindu-Mohammedaner. Der «reine» Hinduismus, wie ihn die Nationalisten vertreten, ist dagegen ein durch und durch modernes Phänomen.Das Nebeneinander und Durcheinander von vielen verschiedenen Lehren und Praktiken, das erst die britischen Kolonialisten als Hinduismus bezeichneten, wird in der Hindu-Ideologie zu einer Doktrin, die auf alles eine eindeutige Antwort hat und Glauben und Unglauben klar definiert. Aber selbst heute sind für viele Inder die Trennungslinien zwischen den Religionen weit durchlässiger, als es sich religiöse Führer in Kairo oder Rom je werden ausmalen können.
In der Moschee des Chisti, die ein Stück weiter in Richtung der Stadtgrenze noch in alter Schönheit steht, beten Hindus und Muslime weiter gemeinsam, Männer neben Frauen, Kinder neben Greisen in Andacht vor den Grabsteinen versunken.
– Bei uns beten selbst die Atheisten, lacht Rashid Baba Nasir ud-Din Chisti, der Nachfahre des Heiligen und Älteste der Familie, ein großgewachsener Herr mit weißem Kinnbart, Haaren und Gewand, der mit Freunden und Verwandten im Garten des Schreins sitzt.
Die Gesellschaft ist gebildet, wohlhabend und, wie einer der Herren betont, anti-fundamentalistisch. Mit den Nachbarn, obwohl die meisten hier die Hindupartei wählten, hatten sie noch nie Probleme – wie auch, wenn die Nachbarn zum Beten kommen? Der Mob – ach, ein Mob sei mit Geld und Alkohol überall leicht zu beschaffen, beinah wöchentlich komme es irgendwo in Indien zu einem Ausbruch der Gewalt, lesen Sie doch nur die Zeitungen. In Gujarat werde der Mob allerdings vom Staat organisiert, das sei der Unterschied, nicht die Nachbarn. Sie selbst hatten Glück, nebenan die Polizeiwache habe den Schrein beschützt, sprechen in perfektem Englisch über die bevorstehenden Wahlen und die Strategie der Kongreß-Partei, die sich um die Muslime kaum bemüht und statt dessen ihrerseits religiöse Töne anschlägt. Die Muslime, so das Kalkül, werden ohnehin für den Kongreß stimmen. Rashid Baba ist pragmatisch: In Gujarat müsse der Kongreß eben die gemäßigten Fundamentalisten gewinnen, um den Sieg der Hindu-Partei zu verhindern. Andere Herren widersprechen heftig. Für sie gibt es
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