Ausnahmezustand
dem Hindu-Nationalismus auseinandersetzen, werden überall in Indien gezeigt – außer in Gujarat. Auf Flugblättern werden Hindus aufgefordert, nicht in muslimischen Restaurants zu essen, keine Muslime anzustellen und Filme mit muslimischen Schauspielern zu boykottieren. Auch Kirchen gelten als Hort feindlicher Missionierung und werden immer wieder in Brand gesetzt. Einige muslimische Geschäftsleute haben ihren Frieden mit Modi gemacht und zeigen sich mit ihm vor Kameras. Andere, vor allem die jungen Männer in den Flüchtlingscamps, zeigen sich empfänglich für die Tiraden islamistischer Prediger, die nach dem Massaker im Bundesstaat ausgeschwärmt sind. Die Mehrheit der Muslime, vor allem die Menschen aus ärmeren und kleinbürgerlichen Schichten, lebt zurückgezogen in eigenen Wohnquartieren, oft durch Zäune getrennt von den früheren hinduistischen Nachbarn. Sieht so die Zukunft Indiens aus?
– Nein, sagt Marendra Singh, ganz bestimmt nicht.
Singh ist mit Anfang vierzig einer der jüngeren Abgeordneten imindischen Parlament. Im Regal steht von Orhan Pamuk bis
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der Kanon des globalen Bürgertums, an den Wänden hängen Poster, Fahne und Zeitungsausschnitte des FC Liverpool. Ob er eine englische Universität besucht habe, frage ich. Nein, eine amerikanische. Fan des FC Liverpool wurde er bereits in Indien. Singh hat Middle East Studies studiert und hält den Koran für ein bemerkenswertes Buch, «mit Blick auf die Zeit wahrhaft humanistisch». Die Muslime seien, wie ich wahrscheinlich wisse, keineswegs mit dem Schwert nach Indien gekommen, sondern als Händler und Sufis.
– Aber in vielen Schulbüchern steht heute das Gegenteil, wende ich ein.
– Die Schulbücher sind doch schon unter der Kongreß-Regierung ausgetauscht worden. Jetzt leiden wir unter den Folgen. Eine ganze Generation ist aufgewachsen mit dieser Propaganda.
Marendra Singh ist kein linker Aktivist. Er gehört der BJP an. Aber für Narendra Modi hat er nicht viel übrig. Ich berichte von den Eindrücken, den Ghettos und Flüchtlingscamps, der schleichenden Hinduisierung der Universitäten und der Verwaltung. Singh kennt das alles.
– Ich habe die Camps selbst gesehen. Ich weiß, daß die Lage grauenvoll ist.
Singh gibt sich keine Mühe, die Zustände in Gujarat zu beschönigen. Er spricht kritisch über den Hindu-Nationalismus. Die BJP müsse sich noch deutlicher vom Dachverband RSS absetzen. Freimütig räumt er ein, daß seine Partei 2002 versagt habe, die gesamte Partei. Aber: Gujarat sei nicht Indien und Modi nicht repräsentativ für seine Partei. Als die BJP die Regierung in Delhi gestellt habe, sei das Verhältnis zu den Muslimen besser gewesen als unter der Kongreß-Partei. Vajpajee habe den Ausgleich mit Pakistan gesucht und für Frieden in Kaschmir geworben. Er selbst, Marendra Singh, habe in seinem Wahlkreis unter allen Kandidaten die meisten muslimischen Stimmen erhalten. Niemals könne man mit einem fundamentalistischen Programm Wahlen in Indien gewinnen.
– Vielleicht keine Parlamentswahlen – aber was tun Sie, wenn derModi-Flügel sich innerhalb der BJP durchsetzt? Ist es dann immer noch Ihre Partei?
– Es wird nicht passieren.
Tatsächlich erscheint es gegenwärtig schwer vorstellbar, daß der Hindu-Faschismus, wie viele Intellektuelle und Journalisten die Ideologie der Nationalisten nennen, die indische Politik beherrscht. Aber der radikale Flügel, für den Narendra Modi innerhalb der BJP noch immer steht, ist wohl nicht ganz so schwach, wie es Marendra Singh darstellt und sich gewiß auch wünscht. Gewinnt Modi die Wahlen in Gujarat, könnte er die BJP tatsächlich auf seinen Kurs bringen. Selbst die anderen Parteien würden noch stärker auf die Befindlichkeiten der Hindu-Führer Rücksicht nehmen. Der ohnehin minimale Druck auf die Regierung Gujarats, einem Bundesland mit immerhin sechzig Millionen Einwohnern, die Ghettoisierung seiner knapp sechs Millionen Muslime rückgängig zu machen und die Gewalttäter zur Rechenschaft zu ziehen, würde sich vollends auflösen. Aber Einfluß zu üben, das ist das eine – und für den säkularen Staat bedrohlich genug, absolute Mehrheiten zu gewinnen, das ist in Indien noch etwas anderes – und das trauen Narendra Modi derzeit nur die treuesten Anhänger zu. Dafür ist das Land zu vielfältig und sind die liberalen und vor allem linken Kräfte zu stark. So sehr Modi sich bemüht, seine Vergangenheit ruhen zu lassen, so oft wird er von seinen politischen Gegnern
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