Ausnahmezustand
sogar
metro
. Was, die wollen eine Metro bauen? schrecke ich auf. Nein, nein, klärt der Übersetzer auf: «Metro» heißt auf Gujarati «Freunde». Schon mit der Anrede signalisiere Modi seinen Anhängern, daß er einer von ihnen sei.
Für die meisten der zehntausend Studenten, die sich an diesemNachmittag auf dem Campus des Technischen Kollegs von Ahmadabad versammelt haben, ist Modi ein Idol, effizient, arbeitswütig und vor allem: nicht korrupt. «Wir danken unserem C. M.» heißt es auf Plakaten, oder bereits «Lots of Congratulations». Wird Modi Anfang Dezember wiedergewählt, das sagen die meisten Kommentatoren voraus, greift er nach dem Vorsitz seiner hindu-nationalistischen BJP – mit dem Ziel, Indiens künftiger Regierungschef zu werden. Gujarat, so haben seine Anhänger immer wieder verkündet, ist lediglich das «Laboratorium» einer radikal neuen, religiös fundierten Politik. Für die vielen Verlierer von Gujarats entfesselter Marktwirtschaft, vor allem aber für säkulare Inder und Indiens hundertdreißig Millionen Muslime, ist der Bundesstaat eher eine Art Hexenkammer. Für sie «vibriert» Gujarat nicht, wie es der Wahlkampfslogan der BJP verkündet, sondern stinkt zum Himmel.
Auf der Müllkippe
Nein, an den Gestank haben sich Bibi Khatun und ihre Schwägerinnen nicht gewöhnt, an den kann man sich nicht gewöhnen. Strom haben sie, Gott sei Dank, zwei winzige Räume, in denen sie zu fünft wohnen, sogar einen Ventilator. Fünf Nägel, an denen die Kleider hängen, zwei Energiesparbirnen, zwei Liegen als Mobiliar, ein Tisch, zwei Plastikstühle, Blechtöpfe auf dem nackten Betonboden. Sicher ist es eng, aber die neben ihnen sind zu acht. Das Problem ist das Wasser. Zwar gibt es Brunnen im Shah Alam Relief Camp, in dem etwa zweihundert Familien leben, aber weil die Müllkippe den Boden verseucht, wird ständig jemand krank, vor allem die Kinder. Bis zum nächsten Arzt sind es fünf Kilometer, und wo eine Schule wäre, das weiß hier niemand. Auf dem Tisch türmen sich Blue Jeans, in die sie weiße Muster nähen, zwei Rupien pro Jeans, umgerechnet vier Cent. Zu dritt schaffen sie am Tag vierzig Stück. Ihr Sohn tritt in das Zimmer. Er ist nicht älter als fünf. Zum Glück, denke ich.
Vor fünfeinhalb Jahren, am 28. Februar 2002, begannen in GujaratAusschreitungen gegen Muslime. Einen Tag zuvor waren 57 hinduistische Pilger bei einem Zugbrand umgekommen. Obwohl eine staatliche Kommission inzwischen festgestellt hat, daß der Brand wahrscheinlich innerhalb des Zuges ausbrach, bezeichnen Hindu-Nationalisten das Unglück weiterhin als einen Terroranschlag, der zu einem spontanen Ausbruch der Emotionen geführt habe. An der Spontaneität bestehen allerdings ebenfalls Zweifel. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen waren die Angreifer gut organisiert, die auf Lastwagen morgens in der Landeshauptstadt Ahmedabad eintrafen. Außer Messern und den traditionellen Dreizacken des Gottes Vishnu, Gasbehältern und Sprengkörpern führten sie auch Listen mit den Adressen muslimischer Häuser und Geschäfte bei sich. Ihre Brutalität ist bis in die entsetzlichsten Details dokumentiert. An vielen Orten sah die Polizei den Massakern nicht nur tatenlos zu, sondern trieb Muslime, die aus ihrem Viertel zu fliehen versuchten, in den Mob zurück. Parlamentsabgeordnete der hindu-nationalistischen Regierungspartei, sogar Kabinettsmitglieder gaben per Handy Anweisungen, welches muslimische Viertel als nächstes überfallen werden sollte. Der Zentralstaat, damals ebenfalls von der BJP regiert, ließ drei Tage verstreichen, bevor er die Armee schickte – und verweigerte ihr den Schießbefehl. Etwa zweitausend Muslime starben. Hunderttausende wurden aus ihren Häusern vertrieben.
Einige Monate später kämpfte Narendra Modi um seine Wiederwahl. In seinen Reden beschränkte er sich nicht auf Technologie und Wirtschaft. Wie etwa die eindringliche Dokumentation «Final Solution» des indischen Filmemachers Rakesh Sharma zeigt, stachelte der Regierungschef offen zum Haß gegen Muslime an und rechtfertigte indirekt immer wieder die Gewalttaten, deren Ausmaß er zugleich konsequent leugnete. Wenn er vor das Publikum trat, überschlug sich seine Stimme. Damals sprach er wie ein Fundamentalist. Für die Vertriebenen im Shah Alam Relief Camp ist er es geblieben.
Ich frage Bibi Khatun, ob am 28. Februar 2002 alle Mitglieder ihrer Familie zu Hause waren.
–Die Regierung hatte doch eine Ausgangssperre verhängt, erinnert
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