Ausnahmezustand
Ministerpräsidenten stellte. Allerdings war sie in Delhi in die Zwänge einer Koalition eingebunden und hatte mit Atal Behari Vajpayee einen Politiker für das Amt des Regierungschefs nominiert, den selbst seine Gegner nicht als religiösen Eiferer bezeichnen. In Gujarat hingegen regierte die BJP allein und errang unter Narendra Modi 2003 sogar mehr als zwei Drittel der Sitze im Landtag. Am höchsten war ihr Stimmenanteil gerade in den Bezirken, in denen es zu Ausschreitungen gegen Muslime gekommen war.
Man kann in Gujarat hinduistische Haßprediger treffen, die Muslimen das Stimmrecht entziehen und sie zwangsweise sterilisieren lassen wollen, die für das Verbot interreligiöser Heiraten eintreten oder Gefängnisstrafen für abtrünnige Hindus fordern. Vor ein paar Wochen erst, Anfang September 2007, hat die Zeitschrift
Tehelka
Videos vorgelegt, auf denen radikale Hindu-Aktivisten wie Babu Bajrangi sich mit der Anzahl der Musliminnen brüsten, die sie während der Ausschreitungen vergewaltigt hätten. Mit den entsprechenden Schnitten – Bilder vom Massaker daneben gestellt, die Flüchtlingcamps, Ausschnitte von Modis früheren Reden – ließe sich bequem der Eindruck erwecken, als würde Gujarat von hinduistischen Taliban beherrscht. Aber das trifft die Situation in dem Bundesstaat nicht. Das Ressentiment gegen Muslime hat sich in der speziellen Situation von 2002 explosionsartig entladen, nach einer Serie von islamistischen Anschlägen in Indien, den Gefechten mit pakistanischen Freischärlern um die Kargil-Höhen und dem 11. September 2001, den die Hindu-Nationalisten weidlich ausschlachteten. Das Entsetzen, das sich nach den Massakern in ganz Indien einstellte, führte in Gujarat zu einem kollektiven Trotzgefühl, das Narendra Modi für sich ausnutzte. Die Kritik an den Massakern deutete er um in eine Verleumdung der friedliebenden Gujaratis:«Ihr sollt also die Vergewaltiger sein, von denen ganz Indien spricht», redete er auf Wahlkampfveranstaltungen sein Publikum an und schmunzelte. Aber auf Dauer ist der giftspritzende Extremismus nicht mehrheitsfähig, nicht in Indien und heute nicht einmal mehr in Gujarat. Den meisten Gujaratis, wenn sie die Massaker von 2002 schon nicht verurteilen, ist die Erinnerung eher peinlich. Entsprechend vermeidet auch Narendra Modi jede Anspielung. Statt von der Gefahr des Islams spricht er lieber von Technologie und Wirtschaft. Das bringt ihm Kritik von Extremisten ein. Aber es könnte ihn in die Mitte der indischen Gesellschaft führen.
Soziale Praxis
Die vier freundlichen Studenten, die ich am Tag nach der Rede des Chief Minister in der Mensa des Technischen Kollegs anspreche, müssen lange überlegen, was 2002 geschah. Ich helfe mit dem Wort
disturbances
nach, da denken sie zunächst an das Erdbeben vor sechs Jahren. Ach so, die Ausschreitungen gegen Muslime. Natürlich sind sie dagegen, überhaupt gegen Gewalt.
– Aber es war eine Reaktion, das muß man auch sehen.
Ich weise auf den Bericht der staatlichen Kommission zur Ursache des Unglücks hin, von dem die Studenten noch nicht gehört haben.
– Die Muslime, fährt einer fort, haben so viele andere Attentate begangen. Irgendwann kommt es zu einer Reaktion.
– Nicht alle Muslime sind Terroristen, wiederholt ein anderer ein Argument, das auch in anderen Teilen der Welt zu hören ist, aber sämtliche Terroristen sind nun einmal Muslime.
Nochmals, sie seien gegen Gewalt, beteuern sie, und hätten nichts gegen den Islam. Überhaupt diskutierten sie praktisch nie über Politik. Der Chief Minister fördere die Universitäten, das sei ihnen wichtig. Nein, sie selbst kennen keine Muslime. Auch nicht aus der Universität? Doch, doch, es gebe ein oder zwei Studenten, aber die würden sie nicht kennen. Nur ein oder zwei Studenten inder ganzen Universität? Ja. Und aus der Schule? Da war auch kein Muslim in der Klasse.
Daß Modi gerade auf dem Campus eines technischen Kollegs populär ist, wundert nicht. Unter seiner Führung hat Gujarat enorme Summen in Ausbildung und Technologie investiert. Merkwürdig ist indes, wie gut sich die autoritäre und fremdenfeindliche Ideologie des Hindu-Nationalismus in seine äußerst liberale Wirtschaftspolitik einfügt. Es ist auffällig, daß vor allem neuere Viertel von den Unruhen betroffen waren, die sich aus ehemaligen Slums zu kleinbürgerlichen Wohngegenden entwickelt hatten. Dort lebten Muslime und Hindus schon zuvor nach Straßenzügen getrennt. In der Altstadt von Ahmadabad
Weitere Kostenlose Bücher