Ausnahmezustand
zukommt. Sie haben ein natürliches Interesse, den Status quo zu bewahren, der sie derart privilegiert, aber einen Großteil der Bevölkerung in Armut, Abhängigkeit und Analphabetismus hält. Man kann das an zwei Zahlen illustrieren: Daß Pakistan mit fünf Prozent des Bruttosozialprodukts eines der weltweit höchsten Spendenquoten aufweist, hat eine Ursache sicher auch in der Mystik, die stets die Barmherzigkeit Gottes betont und zur Wohltätigkeit anhält. Aber zugleich weist das Land eine der niedrigsten Steuerquoten außerhalb Afrikas auf, zahlen nur zwei Prozent aller Pakistanis überhaupt Steuern. Beide Zahlen gehören zusammen. Die individuelle Wohltätigkeit lindert zweifellos das Elend, aber der eklatant fehlende Sinn fürs Gemeinwesen führt dazu, daß die öffentlichen Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser verkümmern. So ist der Sufismus in Pakistan nicht nur ein Bollwerk gegen den Fundamentalismus, sondern auch gegen jedwede Veränderung, erst recht gegen Aufruhr und Revolution. Und so bekämpfen die Barelvi-Theologen den politischen Islam nicht aus einer liberalen, sondern aus einer zutiefst konservativen oder sogar reaktionären Geisteshaltung heraus, die die herrschende Ordnung mitsamt ihrer eklatanten ökonomischen Ungerechtigkeit religiös legitimiert.
So anarchisch er mit seinen langen, zotteligen Haaren, dem wilden Bart und einer lila-grünen Skijacke über dem leuchtend roten Gewand aussieht, gehört auch der Malang, mit dem ich ins Gespräch gekommen bin, gewissermaßen der herrschenden Ordnung an, wenn auch der Orden der Qalandariyya unter den sufischen Orden Pakistans als der ekstatischste gilt; der Malang besitzt einen Mitgliedsausweis, ein Mobiltelefon und sogar eine Visitenkarte, damit man ihn um Gebete bitten kann. An welchem Schrein er sich aufhält und wo er bettelt, bestimmt er nicht selbst, sondern sein Orden. Zwölf Jahre sei er umhergewandert, berichtet der Malang, aber dann habe er vor drei Jahren im Traum dasParadies gesehen. Kurz darauf habe ihm der Orden mitgeteilt, daß seine Mutter erkrankt sei, und ihn angewiesen, sie zu pflegen, seither lebt er bei ihr. Da habe er seinen Traum verstanden, denn habe der Prophet nicht gesagt, daß das Paradies zu Füßen der Mutter liegt?
Gewiß gebe es Unabhängige unter den Malangs, erklärt er, aber unter den Unabhängigen leider auch viele Scharlatane, die sich nicht an Gott, sondern an Drogen berauschten und Armut nur vorgaukelten, um zu betteln. Offiziell registrierter Malang hingegen könne nicht jeder werden, dafür gebe es eine Warteliste, dann eine Aufnahmeprüfung, eine Ausbildung und schließlich die Initiation, bei der man mit geschorenem Kopf das Gelübde der Mittellosigkeit ablege. Denn das sei doch die wesentliche Arbeit des sufischen Weges: die eigenen Begierden abzutöten, nicht ihnen zu erliegen.
– Und was ist das Wesentliche des Islams? frage ich.
– Liebe, antwortet der Malang, ohne zu zögern, Islam ist Liebe, nichts anderes, Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen.
Die Wahhabiten hingegen, zu denen er alle puritanischen Bewegungen und auch die Taliban zu zählen scheint, die Wahhabiten sähen nur Gott, nicht den Menschen, dächten nur daran, das Gesetz zu befolgen, verstünden nicht, daß die Liebe die Voraussetzung sei, um die Gebote zu befolgen, dass es auf das Innen ankomme, nicht auf die äußere Form des Glaubens. Außerdem hätten sie viel Geld, und die Sufis nicht, das sei auch ein Unterschied, hätten Einfluß auf Behörden, auf die Polizei.
Ob er von dem Mord am Gouverneuer Salman Taseer gehört habe? Ja, hat er, die Wahhabiten brächten so viele Leute um.
– Aber Salman Taseer ist von einem Berelwi umgebracht worden, werfe ich ein.
– Von einem Berelwi? wundert sich der Malang: Ach, die Berelwis sind auch nur an den äußeren Formen interessiert.
– Und die Menschen? frage ich: Haben sich auch die Menschen verändert?
Ja, sagt er, die Wahhabiten hätten großen Einfluß gewonnen, besondersbei der Jugend. Manche Menschen würden nicht einmal mehr seine Hand schütteln. Für den Malang befinden sich die Wahhabiten im Krieg mit dem Islam. Gleichwohl ist er zuversichtlich:
– Die Wahhabiten haben verloren, seit sie begannen, die Schreine anzugreifen.
Woran er das merke, frage ich.
– Ich merke es daran, daß die ganze Welt Krieg gegen die Wahhabiten führt, zuerst in Afghanistan, später im Swat oder bei uns im Pundschab. Das ist nicht Amerika, das ist auch nicht unser Militär. Das
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