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Ausnahmezustand

Ausnahmezustand

Titel: Ausnahmezustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Hitzkopf, hätte ihn die Islamische Gemeinschaft allerdings auch kaum mit der Leitung ihrer internationalen Abteilung betraut. Darum gebeten, meine bisherigen Eindrücke zu schildern, bekenne ich deshalb frei heraus, daß mich an Pakistan am meisten die Vielfalt, das Nebeneinander des scheinbar Unvereinbaren beeindruckt habe. New York beherberge ebenfalls viele unterschiedliche Welten, aber in einer Stadt wie Lahore träfe ich sie am selben Ort an, ginge durch die Altstadt und sähe auf fünfzig Metern Frauen mit Gesichtsschleiern und stark geschminkte Transsexuelle, barfüßige Narren mit zotteligen langen Haaren neben Geschäftsmännern im Businessanzug, die Koranschule Tür an Tür mit dem Schönheitssalon. Wo anders als in Pakistan könnte ich die Straße überqueren, um von einem Schrein voll verzückter Sufis, die ihre Vorbilder im neunten Jahrhundert haben, in eine Shoppingmall mit gläsernen Aufzügen und allen einschlägigen Marken des globalen Kapitals zu treten? Und dann die vielen Völker mit ihren verschiedenen Sprachen, Sitten und Gewändern, die vielen Religionen, die Konfessionen allein schon innerhalb des Islams, Sunnitenund Schiiten, Sufis und Orthodoxe, Islamisten und Laizisten – welche Vielfalt!
    So hat Herr Aziz die Dinge noch nicht gesehen, scheint mir, jedenfalls schweigt er und scheint nachzudenken. Vielleicht wartet er auch nur ab, worauf ich hinauswill. Ich fragte mich, so fahre ich deshalb fort, ob eine derart widersprüchliche, aber Widersprüche auch ertragende Gesellschaft mit einem umfassenden Lebensmodell zu vereinbaren sei, wie es die
Jamaat Islami
propagiere. Was passiert mit den vielen, die nicht den Idealen der Gleichheit, Bescheidenheit und Disziplin genügen, wie sie die Gemeinschaft zum Vorbild gebe?
    – Wir glauben, daß die Gemeinsamkeiten in unserer Gesellschaft größer sind als die Unterschiede, hebt Herr Aziz zu einer langen Erläuterung an, warum gerade seine Partei sich für Toleranz und Gleichberechtigung einsetzt: Christen und Hindus führt er an, die für die Partei kandidiert hätten, auf die zahlreichen Frauen verweist er, die sich in der Partei engagierten, von dem schiitischen Bruder berichtet er, der gerade gestern erst mit ihnen in der Moschee gebetet habe. Ungefragt kommt Herr Aziz auch auf die religiöse Minderheit zu sprechen, die am stärksten diskriminiert wird: Wir können auch mit den Ahmadiyas einen Dialog führen und zu gemeinsamen Lösungen finden.
    – Und was ist mit den Sufis?
    Als hätte er auf die Frage gewartet, führt Herr Aziz nun Belege auf, die den Respekt seiner Partei für den mystischen Islam belegen sollen, hier ein klassisches Sufi-Traktat, das von einem Parteiführer ins Urdu übersetzt worden sei, dort ein Führungsmitglied, das aus einer angesehenen Sufi-Familie stamme.
    – Aber lieber Herr Aziz, sage ich, Sie wollen mir doch nicht einreden, daß ausgerechnet Ihre Partei den Sufismus fördert.
    Das einzige, was die Islamische Gemeinschaft kritisiere, seien die Praktiken an den Schreinen, wo geschäftstüchtige Derwische die Unbildung des einfachen Volkes ausnutzten, Drogen konsumiert würden und vielerorts sogar die Prostitution blühe. Und ich wisse doch selbst, daß Sufi-Prediger vor allem auf dem Land ein Hindernisfür jedwede Entwicklung seien, sich nicht gegen die himmelschreiende Armut auflehnten und etwa den Bau neuer Schulen verböten.
    – Und die ekstatische Musik, frage ich, die Tänze, das gemeinsame Beten von Männern und Frauen, was ist damit?
    Ach, das seien Nebenaspekte, nachrangige Symptome, die von selbst verschwänden, würden die grundlegenden Krankheiten der Gesellschaft geheilt.
    – Die grundlegenden Krankheiten?
    Das sind für Herrn Aziz die Ungerechtigkeit, die Korruption, wie gesagt die Armut und damit zusammenhängend die feudale Ordnung, die er nebenbei bemerkt auch für die schlechten Wahlergebnisse der islamistischen Parteien verantwortlich macht, da Loyalitäten sich in Pakistan nicht aus dem Glauben und den Überzeugungen ergäben, sondern aus der ökonomischen Abhängigkeit.
    – Aber wenn die Gemeinsamkeiten so groß und die Unterschiede so gering sind, warum gibt es dann so viel Aggressionen zwischen den einzelnen Gruppen, Religionen, Konfessionen?
    Herr Aziz macht für die Gewalt den Staat verantwortlich, der die ethnischen und religiösen Konflikte schüre, um seine eigene Legitimation zu sichern – seien denn die Anschläge auf Kirchen in Ägypten nicht auch vom Geheimdienst des

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