Ausnahmezustand
fahren.
Der Frieden der Armen
Am Schrein des Baba Farid in Pakpattan, etwa vier Autostunden von Lahore entfernt im Süden der Provinz Pundschab, ist vor einem Jahr ebenfalls eine Bombe explodiert, sechs Menschen starben, aber nun sieht es wieder fast aus wie früher. Nur das Tor, an dem die Bombe hochging, ist zugemauert, dafür wurden die Kontrollen am Hauptgang noch einmal verschärft. Obwohl es erst Mittag ist, an einem gewöhnlichen Werktag, füllen die Gläubigen den riesigen, mit Marmor gekachelten Hof beinah aus, sitzen auf den Stufen und in den Nischen, unter Bäumen oder in der milden Sonne des Winters, meditieren, plaudern, rezitieren den Koran oder schlafen. Hier toben Kinder, dort schreiten Jugendliche cool mit Walkman auf und ab; hier kichern junge Frauen, dort wachen Mütter. Wie die Musik zu einem idyllischen Film klingt der nachts so ekstatische Qawwali, der an zwei verschiedenen Mauern des weitverzweigten Hofs gespielt wird, im Halbkreis vor den Musikern das Publikum, das auch nicht recht mitgeht. Es ist noch zu früh, erklärt ein Malang. Nachts müsse ich wiederkehren oder zum Geburtstag des Heiligen.
Ich frage, ob die Regierung nicht die Musik verboten habe. Doch, doch, sagt der Malang, es sei das erste gewesen, was die Regierung nach dem Anschlag getan habe, die Musik verboten und den Schrein nachts abgesperrt. Doch hätten die Menschen so heftig protestiert, daß die Maßnahmen zurückgenommen werden mußten. Hier auf dem Land könne man den Sufismus nicht per Dekret unterbinden. Aber was heißt Land? Was einmal ein Dorf gewesen sein mag, ist längst so laut, lärmend, hektisch und von Abgasen verpestet wie die meisten Städte des Subkontinents.
Man muß einen Tag ausschließlich auf den Straßen oder in einer Motorrikscha verbracht haben, ohne eigenes Auto mit Fahrer, um den sensorischen Dauerstreß zu erahnen, den die Menschen trotz der Gewöhnung empfinden müssen, den Lärm vor allem, den Staub und die Abgase, die schrillen Farben etwa der Werbetafeln, derKinoplakate oder der Busbemalungen im baumlosen Graubraun der Straßen. Betritt man dann einen Tempel, eine Moschee oder eben einen Schrein, scheint sich die Welt von einem auf den anderen Schritt verwandelt zu haben. Die Bewegungen beruhigen sich, niemand spricht mehr laut, die Farben und Formen harmonisieren, der große Innenhof erlaubt weite Blicke, Musik untermalt die Szene, selbst das Gezwitscher der Vögel ist zu hören. Vielleicht ist es übertrieben zu sagen, daß die Schreine den katholischen Kirchen Zentralamerikas gleichen, die Graham Greene in
The Lawless Roads
beschrieben hat als das einzige schöne Werk menschlicher Schöpfung, das die meisten Bewohner je zu Gesicht bekommen. Jedenfalls gibt es in einer pakistanischen Stadt nicht gerade viele Orte für die Ärmeren, schon gar nicht für die ärmeren Frauen, die zur Muße, zum ästhetischen Wohlgefallen, auch zur Begegnung mit dem anderen Geschlecht und zu besonderen Zeiten, an besonderen Tagen, zur ästhetischen Grenzerfahrung einladen. So erfüllen die Schreine mehr als nur eine religiöse Funktion, ermöglichen sie Erfahrungen, die in anderen Gesellschaften auf viele verschiedene Orte verteilt sind, auf Cafés und Parkanlagen, auf Spielplätze und Sportvereine, auf Museen und Konzertsäle, auf Kirchen und Nachtclubs. Hielte man die Menschen von den Schreinen fern oder nähme ihnen alles außer dem stillen Gebet, wie es in den Großstädten bereits versucht wird – was bliebe ihnen als Ausgleich für die Mühsal ihres Alltags, als Ausflucht in die Schönheit, in die Freiheit? Die Menschen selbst, wenn ich sie frage, sagen oft, sogar fast immer, daß sie in den Schreinen
sokun
finden, inneren Frieden.
Allerdings wirkt sich genau das, was die Schreinkultur so anziehend macht, politisch höchst ambivalent aus: Sie besänftigt die Menschen, aber sie kann sie auch betäuben. Der Zorn der Taliban und anderer radikaler Gruppen auf den Sufismus hat seinen Grund nicht nur in den Glaubenspraktiken, die sie für unislamisch halten. Der Sufismus ist auch ein tragender Pfeiler der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung und mit allen großen Parteien, insbesondere mit der regierenden PPP, personell eng verbunden. So stammen der Präsident, der Ministerpräsident und zahlreiche Mitgliederdes Kabinetts aus Familien von
Pirs
. Auch werden fast alle Schreine im Land von Großgrundbesitzern verwaltet, denen damit, zusätzlich zur ökonomischen Macht, ein enormes religiöses Prestige
Weitere Kostenlose Bücher