Ausnahmezustand
nur wenige Gelehrte und Staatsvertreter den Mut aufgebracht hätten, den Mord öffentlich zu verurteilen. Und wer sich doch kritisch geäußert habe, sei mit dem Tod bedrohtoder sogar umgebracht worden wie der Minister für religiöse Minderheiten, Shabaz Bhatti. Der Mörder habe also sein Ziel erreicht: Kaum jemand wage es mehr, den Blasphemie-Paragraphen in Frage zu stellen, die Diskussion darüber sei praktisch erstickt, das Todesurteil gegen die Christin noch immer nicht revidiert. Kaum jemand wage es, sich wie Salman Taseer mit den Minderheiten solidarisch zu erklären, den Ahmadiyas, den Schiiten, den Christen, die drangsaliert, bedroht oder getötet würden.
– Die moderaten Kräfte sind vollkommen eingeschüchtert, pflichtet ein älterer Herr bei, dessen Familie einen der größten Schreine Pakistans verwaltet.
Ich frage, ob sich auch jene Menschen radikalisiert hätten, die weiterhin zu den Schreinen pilgern, das sogenannte einfache Volk also. Die Runde ist sich nicht recht einig, aber alle Anwesenden betonen, daß die Veränderungen unter den einfachen Menschen jedenfalls weit weniger gravierend seien als in der Mittelschicht und unter den theologischen Eliten. Wer zu den Schreinen pilgere, sei der Gefahr ja unmittelbar ausgesetzt; er würde durch die Anschläge vielleicht eingeschüchtert, aber nun gerade nicht in die Hände der Extremisten getrieben. Das Problem in Pakistan sei nicht eine fundamentalistische Massenbewegung, schließlich würden die Islamisten bei den Wahlen grundsätzlich schlecht abschneiden, kein Vergleich etwa zu den Muslimbrüdern in Ägypten. Das Problem in Pakistan sei die Rechtlosigkeit.
Daß das Militär Terrorgruppen unterstützt, teilweise sogar gegründet hat, um sie in Kaschmir und Afghanistan für die eigenen strategischen Ziele einzusetzen, ist wohlbekannt. Viele dieser Kämpfer sind nach Pakistan zurückgekehrt und haben sich neu formiert. Sind sie der Geist, der nicht mehr in die Flasche zurückwill, oder weiterhin ein Instrument, nun um das eigene Land in dem Ausnahmezustand zu halten, der die Stellung des Militärs perpetuiert? Klar ist in jedem Fall, daß in Pakistan praktisch gefahrlos Terror ausgeübt werden kann, zumal auf sogenannte «weiche» Ziele wie Schreine, Moscheen und Schulen, die auch mit ein paar Polizisten nicht ernsthaft geschützt werden können. So viele Attentatees auch gibt – ein Attentäter wird praktisch nie festgenommen, und wenn doch, dann hat die unterfinanzierte und personell überlastete Polizei meist so schlampig ermittelt, daß er aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden muß. Die Justiz ist eine der wenigen Institutionen, die noch halbwegs normal funktionieren.
– Und die Regierung?
Daß die PPP der Familie Buttho, die gegenwärtig die Regierung in Islamabad stellt, genauso korrupt wie alle anderen Parteien ist, versteht sich in der Runde von selbst. Aber beinah genauso selbstverständlich ist es in den Villen der Oberschicht, ob in ihnen nun Whisky getrunken oder meditiert wird, ausgerechnet die PPP für das kleinere Übel zu halten, die Partei, die ihre Basis in der Landbevölkerung hat, am entgegensetzen Ende der ökonomischen Skala. Die seltsame Koalition der Ärmsten und der Reichsten verdankt sich der Nähe der Regierung zur Volksfrömmigkeit; der Ministerpräsident selbst stammt aus einer angesehenen Familie von Sufis. Nicht die Bürger, sondern die Bauern, nicht die Ingenieure, sondern die Handwerker stützen in Pakistan ein säkulares Staatsmodell – nicht die Moderne ist weltlich, sondern die Tradition.
– Es ist ja nicht so, daß nur der Sufismus bedroht ist, seufzt die Dame, als wir wieder auf der Rückbank ihrer Geländelimousine sitzen: Alles ist bedroht, was irgendwie anders ist, die Minderheiten, die Transsexuellen, die Künstler, die Frauen.
Lahore sei einmal eine Stadt der Kultur gewesen, eine wunderschöne Stadt, so bunt und vielfältig und verrückt wie New York, mit Theaterfestivals, Lesungen, wunderbaren Kinos und klassischen Konzerten, mit Bars, Revuen und Rotlichtvierteln. Wenn es überhaupt noch öffentliche Veranstaltungen gebe, dann würden sie aus Furcht schon nicht mehr angekündigt. Manchmal tagträume sie, daß sie mit dem Fahrrad durch Lahore fahre, und dann falle ihr ein, daß das gar kein Traum war, sondern eine Erinnerung, als Kind und noch als Jugendliche sei es völlig normal gewesen, auch für sie als junges Mädchen, auf der Straße zu spielen, zu flanieren und eben auch Fahrrad zu
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