Ausnahmezustand
der ich mir schon eine Mystikerin wie sie nicht in Pakistan vorgestellt habe. Die Gebote des Islams hält sie streng ein, betet fünfmal am Tag, fastet, trinkt keinen Alkohol mehr. Auch wenn es im Sufismus auf das innere Erleben ankomme, müsse man die äußeren Pflichten dennoch befolgen, grenzt sie sichvon esoterischen Moden ab. Inwiefern sie sich den Gläubigen aus dem einfachen Volk verbunden fühle, die die Schreine und die Feste der Heiligen besuchen, frage ich.
– Ich gehöre ja nach wie vor meiner Schicht an, relativiert die Dame nicht den sozialen Unterschied, und bin offenkundig keine Asketin geworden, die allem Weltlichen entsagt.
Immerhin habe ihr pakistanischer Mentor sie angewiesen, die Gräber der Heiligen zu besuchen, weil von ihnen Segen ausgehe, und so fahre sie jeden Freitag zum Schrein der Bibi Pak Daman in einem der ärmeren Viertel Lahores, um dort zu meditieren. Ob sie denn nicht sehr auffalle dort, frage ich und meine eigentlich, ob sie nicht auch mal unangenehme Situationen erlebe, allein als Frau aus höheren Kreisen in einem Schrein.
– Ich bin dort immer sehr früh, da ist noch nicht viel los.
Als wir aus der Geländelimousine steigen, haben wir das Villenviertel nicht verlassen. Das Tor wird von Wächtern geöffnet, die hier selbstverständlich ein Maschinengewehr umgehängt haben. Der Hof ist mit Blumen in Kübeln aus Terrakotta geschmückt, das Haus so schlicht wie geschmackvoll eingerichtet, mit wenigen, aber kostbaren Teppichen auf dem Steinboden, indirektem Licht und grauen, wohl italienischen Sofas. Die Gesellschaft, in die wir eintreten, ist kultiviert und wohlhabend, unter ihnen eine Filmemacherin und ein Schriftsteller, ein Arzt und eine Anwältin. Nur der Schüler des zypriotischen Pirs sticht hervor, der anderen Anwesenden ebenfalls ein Mentor ist. Nicht nur, daß er das Gewand, die weiße Kappe und den langen Bart der Theologen trägt, er ist auch deutlich jünger als die übrigen Sufis, Anfang dreißig, schätze ich, und wird dennoch bei den Diskussionen stets um das abschließende Urteil gebeten. Sein Akzent verrät, daß er im Unterschied zu den anderen Gästen das Englische nicht von klein auf gelernt hat.
Das Thema, zu dem das Gespräch immer wieder zurückkehrt, ist die Ermordung des Gouverneurs von Pundschab, Salmaan Taseer, vor einem Jahr. Taseer hatte die Abschaffung des pakistanischen Blasphemiegesetzes gefordert, nachdem ein Todesurteil gegen eine Christin verhängt worden war, die den Propheten beleidigthaben soll. Nun gibt es in Pakistan so viele Anschläge, ich muß nur die Tageszeitung aufschlagen, um das Ausmaß der politischen Gewalt zu ermessen: Daß ein Selbstmordattentäter in einer Moschee nahe Islamabad 29 Schiiten mit in den Tod reißt, ist schon kein Aufmacher mehr, sondern stand am nächsten Morgen auf Seite zwölf. Und doch wird die Ermordung Salman Taseers weithin als Zäsur wahrgenommen, gerade unter Künstlern, Intellektuellen und überhaupt der weltlich ausgerichteten Oberschicht. Denn der Täter Mumtaz Qadri, ein Leibwächter Taseers, ist nicht etwa Mitglied einer wahhabitischen Terrororganisation, der Anschlag hatte auch keinen ethnischen, kriminellen oder sektiererischen Hintergrund; der Täter war ein Berelvi und damit Anhänger jener theologischen Bewegung, die in Pakistan den Mehrheitsislam repräsentiert. Sie ist nicht identisch mit dem Sufismus, steht gleichwohl der Schreinkultur nahe, liefert den mystischen Ritualen eine dogmatische Grundlage und gilt weithin als «gemäßigt». Nach dem Anschlag auf den Schrein von Data Gandsch Bachsch im Juni 2010 waren es Berelvis, die auf Massendemonstrationen zum Widerstand gegen den Extremismus aufriefen. Ihr militanter Arm, die
Tehrik-e Sunna
, wurde als Bollwerk gegen die Taliban auch von der amerikanischen Regierung finanziert. Und nun war es ausgerechnet ein Anhänger dieser mystisch geprägten Schule, der einen säkularen Politiker ermordete, und fünfhundert führende Theologen der Berelvis hießen den Mord in einer gemeinsamen Erklärung ausdrücklich gut. Die
Tehrik-e Sunna
feierte Mumtaz Qadri als Helden, belohnte seine Familie mit viel Geld und bedrohte die Tochter Taseers mit dem Tod. Im Parlament weigerten sich zahlreiche Politiker, ein Totengebet für den ermordeten Gouverneur zu sprechen.
– Wir reden nicht mehr über einige Randgruppen, gibt sich der Mentor keinen Illusionen hin: Der Virus des Fanatismus hat die Mitte unserer Gesellschaft erfaßt.
Er verweist darauf, daß
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